Wintersport:"Ich lauf' einfach gemütlich hoch und rutsch' dann runter"

Lesezeit: 7 min

Manfred "Fritz" Threimer. (Foto: Leonhard Simon)

Mit 65 Jahren steigt Manfred Threimer erstmals aufs Snowboard, mit 90 fährt er immer noch. Ohne Lift - dazu fehlt ihm die Kraft, obwohl er sich mit Holzhacken fit hält.

Von Thomas Becker

Das Bild ist im Kasten, der Fotograf zufrieden, das Snowboard kann wieder aufgeräumt werden - ist ja eh kein Schnee mehr weit und breit. Instinktiv will man dem alten Herrn das unhandliche Trumm abnehmen, aber er schiebt die helfende Hand beiseite. "Ich mach' alles selber, hab' noch nie jemanden um Hilfe gebeten", sagt der 90-Jährige, "irgendwann wird's nicht mehr gehen. Aber bis dahin..." Spricht's, klemmt sich das sperrige Board unter die dürren Ärmchen und verräumt es wieder an seinen Platz, hinter der Eingangstür, neben die Schneeschuhe.

"So", sagt der Super-Senior, "und jetzt fahren wir runter ins Weiße Rössl zum Essen. Ich hab' viel zu erzählen!" Spricht's, steigt ins Auto, das auf der Beifahrerseite offenbar irgendwo recht heftig entlanggeschliddert ist und lenkt die so steile wie kurvenreiche Straße nach Thiersee so zügig runter, als sei es eine topfebene Geradeaus-Strecke. Nur beim Einparken holpert er kurzerhand über den Bürgersteig hinweg in die Parklücke - passt.

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Um Konventionen hat er sich sein Leben lang nicht geschert - sollen die anderen doch den Normalweg fahren, ich fahr' so, wie es mir gefällt! Und damit willkommen im Kosmos von Manfred Threimer, den alle nur Fritz nennen und der als einer der ältesten Snowboarder der Welt gelten darf.

Auf dem Brett haben wir ihn leider nicht erlebt, dafür war der Frühling doch schon zu sehr fortgeschritten und seine Lieblingspiste bereits grün. Die liegt direkt vor der Haustür: ein nur ganz sachte geneigtes Stück Wiese vor seiner Berghütte hoch über Hinterthiersee, zwischen Bayrischzell und Kufstein. Kein Lift? "Dafür fehlt mir die Kraft", erklärt Threimer, "ich lauf' einfach hoch und rutsch' dann gemütlich runter. Das Hochlaufen macht mir eh mehr Spaß - und es hat mich sicher auch fit gehalten."

"Wenn ich hier oben stürze und mir was breche, dann wird's schwierig..."

Es muss schon ein sehr spezielles Bild sein, wenn dieser Gandalf-Lookalike mit weißem Langhaar und ebenso langem weißen Rauschebart über die Wiese boarded, zur Sicherheit zwei Skistöcke in den Händen. Denn eins ist ihm klar: "Wenn ich hier oben stürze und mir was breche, dann wird's schwierig..." Handy-Empfang? Fehlanzeige. Die Nachbarn? Nur an ein paar Wochenenden im Jahr da. Die Söhne? Leben in München.

Er weiß: Die alten Knochen vertragen keine große Belastung mehr, deshalb gibt Threimer gut auf sich acht, hackt täglich Holz und übt sogar auf einem modernen Balance-Board. Sein Schreckensszenario: Oberschenkelhalsbruch, Krankenhaus und danach ins Altenheim. Da würde er eingehen wie die berühmte Primel, sagte er: "Was soll ich denn da? In die Glotze starren? Ich bin jeden Tag in Bewegung, brauch' immer was zu tun."

Und so hat er sich für 2023 ein Programm vorgenommen: "Zuerst das Baumhaus für den neugeborenen Enkel, danach eine kleine Seilbahn vom Schafstall rüber zur Terrasse, im Mai den Badebottich draußen herrichten und schließlich noch die 1000-Höhenmeter-Tour mit meinen Söhnen zum Spannagelhaus. Und dann sollte man schauen, dass man das irgendwie vernünftig zu Ende kriegt..." Er meint sein Leben, dieses pickepacke volle Leben, das im Januar 1933 in Johannesthal, einem kleinen Dorf im Sudetenland, begonnen hat.

Zwei ältere Brüder hatte Threimer, dessen Familie seit dem 16. Jahrhundert an der Grenze zu Schlesien eine Mühle betrieb. Im April 1946 war Schluss damit: "Die Tschechen kamen und haben uns von Haus und Hof verjagt. Gerade mal 50 Kilo durfte jeder mitschleppen, der Rest blieb zurück." Zurück blieb auch die unselige Vergangenheit im sogenannten Jungvolk. "Mein ältester Bruder wurde noch mit 17 zur Luftwaffe eingezogen", erzählt Threimer, "so ein Held wollte ich auch werden! Seit ich zehn war, haben sie uns konsequent zum Krieg erzogen - ein Verbrechen! Aber damals hätte ich für Hitler mein Leben gegeben." In Viehwaggons zusammengepfercht ging es mit vielen anderen Familien über zig Tage hinweg per Zug bis nach Dachau, wo sie entlaust wurden und auf einen Bauernhof in Grünhofen bei Amerang geschickt wurden.

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Der kleine Fritz, benannt nach Patenonkel Friedrich, kam auf die Oberschule Wasserburg - eine schlimme Zeit: "Für die Einheimischen waren wir Vertriebene, Zigeuner, das letzte Volk." Der Vater, Maschinenbau-Ingenieur und Müllermeister, war plötzlich nurmehr Hilfskraft. Prägende Erlebnisse, die Threimer 70 Jahre nach der Vertreibung auf 400 Buchseiten festgehalten hat, Titel: "Das verlorene Leben".

Früh ließ er die Schule hinter sich, machte eine Lehre bei Siemens samt Monteurs-Prüfung, bekam ein Stipendium und studierte an der Fachhochschule. Bald war er Leiter der Monteurs-Truppe in Münster und Essen, doch ein unbedachter Satz bei einer Jubiläumsfeier ließ ihn von der Karriereleiter purzeln: "Ach, ich würd' schon wieder gern nach München", hatte er gesagt - wenig später war er das auch, allerdings nicht mehr als leitender Angestellter. Halb so schlimm, wieder in den Bergen zu sein war ihm eh wichtiger.

Threimer hat viele seiner Ski aufgehoben. (Foto: Leonhard Simon)

Von klein auf waren die Brüder auf Skiern die Hügel des Sudetenlands hinabgesaust, in den Alpen ging das natürlich noch um Klassen besser. Auch von einem Knochenbruch - erlitten 1955 in der Rosengasse am Sudelfeld - und einem Vierteljahr Streckverband ließ er sich nicht von seiner Passion abbringen. Der Skikeller seiner Hütte: fast zwei Dutzend Kleinode aus mehreren Dekaden, nach denen sich jedes Ski-Museum die Finger lecken würde. Zum Snowboard kam er erst mit 65, durch seine Söhne, einer davon nahm sogar an Wettkämpfen teil, ist heute Commercial Director einer Snowboard-Marke. Papa Threimer meinte jedenfalls: "Was die können, kann ich auch!"

Und so posiert er dann also in Jeans, Adidas-Jacke und Woll-Stirnband für den Fotografen, mit seinem 1,57 Meter langen Brett in der Hand, das ihn mittlerweile längenmäßig fast überholt hat - so ganz kerzengerade wie Kollege Gandalf, der Zauberer aus "Herr der Ringe", steht Fritz Threimer nicht mehr da. Die Last der Jahre lässt auch die stärkste Wirbelsäule langsam aber sicher einknicken.

Das mit dem Posieren gefällt ihm aber schon ganz gut. Seine Berghütte ist zugepflastert mit Erinnerungsfotos, die Geschichte über ihn in einem Snowboard-Magazin hat er großformatig ausgedruckt und in einem hüfthohen Goldrahmen aufgestellt. Mitten in der Stube: eine Art Lebensbaum namens Manidu, mit den wichtigsten Stationen der vergangenen neun Jahrzehnte. Man muss sich nicht allzu lange mit ihm unterhalten, um zu wissen, dass der Dezember 1958 eine herausragende Bedeutung in seinem Leben hat. Da traf er nämlich seinen Lebensmenschen, die Ursula, in der Tram am Stiglmaierplatz.

Wenig später, der Bergfex war auf Skitour am Spannagelhaus in den Tuxer Alpen, schrieb er seinen ersten Liebesbrief, dem viele weitere und zwei Jahre später die Heirat folgen sollten, zudem zwei Kinder, ein Haus in Pöring bei Zorneding und seit 1992 die Hütte in den Bergen, die er "auch für eine Million nicht verkaufen würde". Eine erfüllte Zeit, die vor sieben Jahren ein abruptes Ende nimmt, als seine "um einiges jüngere" Partnerin im Auto eine Hirnblutung erleidet und stirbt. Bis heute habe er ihren Tod nicht verwunden, sagt er, schaffe sich deshalb eine Arbeit nach der anderen an: "So derhaut wie ich äußerlich aussehe, bin ich es auch innerlich."

Der "Lebensbaum" in der Hütte mit Stationen aus einem 90-jährigen Leben. (Foto: Leonhard Simon)

Was ihm bleibt in Sachen Lebenssinn? Die Enkel, klar. Für sie hat er jede Menge Holzspielzeug, Löffel und Pfeifen geschnitzt - der Opa war Schreinermeister - , hat draußen Trampoline aufgestellt und früher immer Hühner und Enten herumlaufen gehabt. Sein Credo: "Kinder müssen mit Tieren aufwachsen!" Doch mittlerweile sind die Kleinen auch schon 13 und 15 und nicht mehr so oft beim Opa. Gut, dass es nun noch einen frischen Enkel gibt, den Karli.

"Innen drin bin ich immer noch Kind", sagt Threimer, "mit Kindern kann ich mich viel besser abgeben als mit den Vertretern meiner Altersklasse." Die Huskies Winn und Shatt - genau: benannt nach Winnetou und Old Shatterhand - leben schon lange nicht mehr: "Die haben's mir in Kanada einfach erschossen", erzählt der Karl-May-Fan. In den 90ern hatte er mit seinen Huskies einen ausgewanderten Freund in der Wildnis von British Columbia besucht - und aus dem Bauch heraus eine Ranch gekauft, 1,6 Millionen Quadratmeter. "Meine Frau und meine Söhne waren nicht mal überrascht. Die wissen: Ein bissl spinnt er halt, der Fritz."

Die Hälfte des Jahres verbringt er dort, mit Wölfen, Kojoten und Schwarzbären, 350 Kilometer weg von der nächsten Einkaufsmöglichkeit. Zunächst genießt er Rancher-Status, was Steuern spart, doch als das wegfällt, wird es unrentabel. Den gewünschten Partner, der sich mit ihm Farm und Arbeit teilt, findet er nie, und so verkauft er alles 2014 wieder.

Die Gegend um seine Berghütte ist für ihn bis heute Klein-Kanada. Vor allem im Winter ist er lieber hier oben am Schneeberg als im flachen Pöring. "Im Schnee fühle ich mich viel freier, das ist ein ganz anderer Bewegungsablauf", erzählt er bei einem Stamperl Himbeergeist in der herrlich nach Holz duftenden Stube. Zweimal sei er heuer mit dem Snowboard gestürzt, dann dauere es schon eine Weile, bis er wieder steht: "Ich komm' ja kaum an die Bindung." Kein Wunder, das ist ja auch für Jüngere keine einfache Übung.

Er sieht aus wie der Zauberer Gandalf aus "Herr der Ringe". Threimer selbst sagt: "So derhaut wie ich äußerlich aussehe, bin ich es auch innerlich." (Foto: Leonhard Simon)

Wie viele Winter er noch auf dem Brett stehen wird? Wer weiß. "Manchmal fällt mir das Leben morgens schon schwer. Ich mache ja alles in Zeitlupe", gibt er zu. Mehr als vier, fünf Stunden Schlaf bringt der alte Fritz nicht mehr zusammen, und da er nicht um vier in der Früh wach liegen mag, wird es oft weit nach Mitternacht, bis er zu Bett geht: "Die Winterabende sind schon verdammt lang." Es gibt zwar eine chaotische Ein-Mann-Küche samt Elektroherd, aber am liebsten kocht er auf dem alten Ofen in der Stube, aus einem alten Radio dudelt Bayern 1, mehr Ablenkung ist nicht. Briefe schreibt er gern und oft, das halte geistig fit, meint er, "aber jeden Abend kann ich das auch nicht machen".

Zwei Kästchen hat er gebastelt: In dem grünen liegen die wichtigen Texte, die die Nachwelt doch bitte schön ansehen möge, im roten die weniger bedeutenden, die gern weg können. Wie er dieses Leben verlassen könnte, darüber hat er schon mit den Söhnen gesprochen, Stichwort Sterbehilfe in der Schweiz. Er sagt: "Der liebe Gott hat mir mein Leben geschenkt - warum darf ich mein Leben nicht beschließen, wenn es nicht mehr geht?"

Spricht's, nimmt den letzten Schluck Radler im Weißen Rössl, zahlt die Runde für alle, braucht eine Weile, bis die Knochen nach dem langen Sitzen wieder mitspielen und versucht dann, in die Jacke zu kommen. Da ist er wieder, der Helfer-Instinkt: In die Jacke kann man ihm schon helfen, oder? Aber nein, solange es noch geht...

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