SZ-Serie: Neustart, Folge 2:"Ich möchte raus!"

Lesezeit: 4 min

Mit 21 Jahren will Sabine Hauzeneder ihr Elternhaus verlassen - ein Wunsch, wie ihn viele Gleichaltrige hegen. Die junge Frau mit Down-Symdrom zieht im März in eine Wohngemeinschaft mit Studenten

Von Franziska Gerlach

Ewig geführte Debatten wegen zu lauter Musik oder der nicht ausgeräumten Spülmaschine, der Ärger darüber, dass wieder mal der Lieblingsjoghurt nicht im Kühlschrank steht, und ständig regt sich auch jemand über die Spur der Verwüstung auf, die nach einem ausgiebigen Beauty-Programm vom Badezimmer abgeht. Es gibt wahrlich jede Menge Gründe für den Auszug aus dem Elternhaus. Sabine Hauzeneder bringt solche Argumente nicht vor, aber natürlich gibt es auch in ihrer Geschichte einen triftigen Grund, weshalb sie im März in eine Wohngemeinschaft mit acht Gleichaltrigen ziehen wird. Zweifelsohne ein großer Schritt. Doch ihr Verlangen ist nun einmal stärker als der Respekt vor der Veränderung. "Ich möchte raus!", sagt die 21 Jahre alte Münchnerin.

Raus also. Das klingt zunächst einmal nicht nach einem Kompliment für die Eltern, Monika und Matthias Hauzeneder, 46 und 52 Jahre alt. Ihre Tochter möchte ausziehen, und das, obwohl sie doch eine so warme und behagliche Atmosphäre geschaffen haben in ihrem Moosacher Heim. Das Wohnzimmer beherbergt eine gemütliche Sitzecke, mit Kissen und einem niedrigen Tisch davor, auf einer Kommode stehen Fotos von Sabine und ihrem Bruder Flo. Ein richtiges Nest. Aber man kennt das ja. Mit Anfang 20 ist der Drang nach Freiheit groß, die Freunde sind oft wichtiger als die Familie, das Leben kommt einem vor wie eine bunte Wundertüte. Warum sollte das bei einer jungen Frau mit Down-Syndrom anders sein?

Ihre Tochter habe ihren Auszug "konsequent eingefordert", erzählt Monika Hauzeneder, über zwei Jahre hinweg habe sie immer wieder darum gebeten. Also soll es so sein. Denn Sabine Hauzeneder hat Lust aufs Erwachsensein. Auf Partymachen, wie sie es ausdrückt. Damit meint sie allerdings nicht, die Münchner Nächte durchzechen zu wollen. Aber Sabine möchte in dem weißen, verschnörkelten Metallbett schlafen, das sie sich bereits bei einem schwedischen Möbelhaus ausgeguckt hat. Sie will von Gleichaltrigen umgeben sein, mit ihnen gemeinsam einkaufen, kochen und zu Abend essen. Und: Ihr Freund Hansi soll sie besuchen kommen und bei ihr übernachten. Wie man das eben so macht, wenn man eine ernsthafte Beziehung führt. Und dass es etwas Ernstes ist zwischen den beiden, das sieht man schon an dem gerahmten Foto, das Sabine an einer langen Kette um den Hals trägt.

Trotz der engen Beziehung zu ihrer Mutter Monika Hauzenberger (links) will Sabine Hauzenberger ihr Mädchenzimmer im Elternhaus aufgeben. (Foto: Alessandra Schellnegger)

In der neuen Wohngemeinschaft, die der Verein "Gemeinsam Leben Lernen" im März im Neubaugebiet an der Hochäckerstraße in Perlach eröffnet, wird das alles möglich sein. Es ist ein integratives Wohnprojekt. Die Studenten, die einziehen, müssen keine Miete bezahlen, im Gegenzug begleiten sie die Bewohner mit geistiger Behinderung zu festgelegten Zeiten. Die WG-Mitglieder werden von einer Sozialpädagogin und einer Helferin im Freiwilligen Sozialen Jahr unterstützt, über eine weitere Mitarbeiterin soll die Anbindung an den Nachbarschaftstreff des Viertels erfolgen, Sabine und ihre Mitbewohner sollen von Anfang an eingebunden werden in das neue Viertel. Jedes Geschäft, jedes Café kennenlernen. Praktische Inklusion, eben.

Hotel Mama? Das ist dann nicht mehr. "Ich glaube, das wird ihr einen richtigen Schub in ihrer Selbstständigkeit geben", sagt Monika Hauzender. Gerade wegen des Kontaktes mit den Studenten. Sie gönne ihrer Tochter diese neue Erfahrung. Und überzeugt davon, dass Sabine das alles bravourös meistern wird, ist sie sowieso. In Moosach bewohnt Sabine Hauzeneder noch das Zimmer eines Mädchens, eine heimelige Welt, in der es Plastikpferde mit pastellfarbenen Mähnen gibt, selbst gebastelte Papierfahnen und ein Puzzle von Jack Sparrow, dem Hollywood-Piraten, der mit seiner Albernheit so gut trübe Gedanken vertreiben kann. Der kommt natürlich mit in die WG, sie hat das Puzzle schließlich mit ihrem Vater gelegt; auch der Ordner, in dem sie Kochrezepte sammelt, zieht mit um. Zuallererst will Sabine aber ihre beiden Barbies einpacken. Nach jahrelangen Schmuseattacken sind deren Haare verfilzt, die Finger abgeknabbert, nur ein vom Opa gebasteltes Halsgelenk hält die Köpfe noch auf den Rümpfen. Und trotzdem müssen die alten Plastikpuppen mit in Sabine Hauzeneders neues Leben. Weil sie die Barbies besitzt, seit sie vier Jahre alt ist. Vielleicht aber auch, weil die Puppen eine Verbindung darstellen zwischen hier und da, zwischen der alten und der neuen Heimat. Vieles von dem, was Sabine Hauzeneder als erwachsen erachtet, hat sie bei ihrem zwei Jahre älteren Bruder Flo gesehen.

Auto fahren zum Beispiel oder eine feste Beziehung führen, erzählt ihr Vater Matthias Hauzeneder. Und das will sie dann auch. "Sie möchte halt einfach auch selbstständig sein", sagt er. In einer Sache hat die kleine Schwester den großen Bruder nun aber sogar überholt. Sabine zieht schon im März aus. Flo dann wohl im kommenden Herbst, wenn er sein Informatikstudium abgeschlossen haben wird. Für Monika Hauzeneder stehen also gleich zwei Abschiede an, gleich zwei Mal wird sie loslassen müssen. Die Frage ist allerdings: Lässt sie Flo leichter gehen als Sabine, den Sohn leichter als die Tochter, das nicht-behinderte Kind leichter als jenes mit Behinderung? Die Antwort könnte nicht deutlicher ausfallen: Es wäre ihr zwar lieber, wenn die WG etwas näher an Moosach liegen würde. Aber nein, sagt sie, da bestehe kein Unterschied.

Das erscheint auf den ersten Blick erstaunlich. Denn diese Innigkeit zwischen Mutter und Tochter, das liebevolle Necken und Nase stupsen, das zeigt die Vertrautheit einer fürsorglichen, engen Beziehung. Und doch steckt darin keineswegs Bevormundung, sondern auch ganz viel Offenheit für Selbständigkeit - aber auch ein wenig Unsicherheit angesichts der neuen Wohnsituation, Unsicherheit nicht unbedingt nur bei der Mutter.

Denn wer, fragt Sabine Hauzeneder völlig unvermittelt, wird ihr in der Wohngemeinschaft dann beim Haarewaschen helfen? Na, die Mitbewohner in der WG natürlich, beschwichtigt ihre Mutter. Sie spricht nun ihrerseits von einem weinenden und einem lachenden Auge, mit dem sie ihre Tochter aus dem Nest flattern lässt. "Es wird sicher stiller hier", sagt Monika Hauzeneder und ihr Blick verrät, dass sie noch nicht so recht weiß, wie sie das finden wird. Sie spricht aber auch von der Freiheit, die sie gewinnen wird. Denn einfach so mal ausgehen, geschweige denn ein spontanes Wellness-Wochenende einlegen, ohne Sabine gut betreut zu wissen? Das war bislang nicht denkbar.

Bislang hat Sabine Hauzeneder auch jedes Mal, wenn der Bus, der sie zur Arbeit in die Werkstatt in Oberschleißheim bringt, im Stau stand, ihre Mutter angerufen. Auch diese Anrufe werden sicher weniger werden. Sabine wird wohl ihren Mitbewohnern in Perlach Bescheid geben, und die dann vielleicht Monika und Matthias Hauzeneder. Das wird sich alles zeigen. Sabine Hauzeneder kuschelt sich an ihre Mutter. Zwei Unzertrennliche, die bald schon auseinander ziehen werden. Aber trennen? "Wir trennen uns nicht", sagt die Mutter und streicht der Tochter über die Wange. "Du schläfst nur woanders."

© SZ vom 04.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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