Aerosole beim Singen:Von Blüte und Bruch

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Matthias Echternach leitet die Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie des Universitätsklinikums der LMU München. Neben dem Medizinstudium erhielt er eine Gesangsaus- bildung und war in verschiedenen Ensembles tätig. (Foto: privat)

Wie die Stimmen der Buben physiologisch funktionieren

Interview von Michael Stallknecht, München

Als Junge hat er selbst im Knabenchor Hannover gesungen, heute zählt Matthias Echternach zu den führenden Stimmfachärzten. Anhand von Praxistests mit dem BR-Chor und -Orchester hat er in den vergangenen Monaten Studien zur Verbreitung von Aerosolen beim Singen und Musizieren vorgelegt.

SZ: Beim Tölzer Knabenchor hat man wegen der Probenausfälle in jüngster Zeit eine interessante Entdeckung gemacht: Buben, die nicht singen, kommen früher in den Stimmbruch. Können Sie das aus medizinischer Sicht bestätigen?

Matthias Echternach: Diese Einschätzung teilen nicht alle Knabenchöre. Mir scheint, dass nicht der Stimmbruch selbst verfrüht eintritt, sondern dass er durch mangelndes Training leichter aufgedeckt wird. Er führt ja zu einer Verlängerung der Stimmlippen, die den Ton erzeugen. Doch eine Zeit lang lässt sich das durch eine geübte Gesangstechnik gut ausgleichen.

Wie lange hat denn eine Knabenstimme üblicherweise Zeit für ihre Entwicklung?

Der Stimmbruch findet mittlerweile relativ früh statt, um das 13. Lebensjahr, und damit deutlich früher als etwa zu den Zeiten Johann Sebastian Bachs. Deshalb sind die meisten Knabenchöre dazu übergegangen, schon sehr früh mit der Ausbildung zu beginnen, meistens vom siebten oder achten Lebensjahr an.

Bach hatte also in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehr Zeit für die Ausbildung bei seinem Thomanerchor ?

Die Spanne verlängerte sich nach Bach sogar weiter. Diese Entwicklung kippt um das Jahr 1850, wie die Musikwissenschaftlerin Ann-Christine Mecke gezeigt hat. Wir vermuten, dass der beschleunigte Stimmbruch im 20. Jahrhundert hormonelle oder ernährungsphysiologische Gründe hat.

Nützt es dem Singen im Erwachsenenalter, wenn man bereits die Kinderstimme trainiert hat?

Das lässt sich wissenschaftlich nicht sicher sagen, aber für die Entwicklung der Musikalität ist es auf jeden Fall sinnvoll. Hinsichtlich der Tonproduktion hätte ich eher Zweifel. Nach dem Stimmbruch muss ohnehin das komplette System neu justiert werden, was zwei bis drei Jahre dauert.

Im vergangenen Jahr ist in Berlin eine Rechtsanwältin vor Gericht gescheitert, die ihre Tochter in einen Knabenchor einklagen wollte. Ist es rein stimmphysiologisch gerechtfertigt, Mädchen aus Knabenchören auszuschließen?

Im Alter von sieben und acht Jahren unterscheiden sich Mädchen- und Jungenstimmen physiologisch nicht besonders stark. Aber kurz vor dem Stimmbruch entstehen geschlechtsspezifische Unterschiede, weil da bei den Knaben die Stimmlippen und Resonanzräume deutlich schneller wachsen. Diese kurze Blütezeit muss man ausnutzen. Das erfordert jenseits rein organischer Unterschiede ein spezielles Training, um die Knabenstimmen so weit zu bekommen, dass sie in diesem engen Zeitfenster zum Beispiel schon Bach singen können. Bei Mädchen liegt diese Blütezeit erst etwa zwischen dem 14. und dem 17. Lebensjahr.

Mädchen haben aber auch einen Stimmbruch?

Ja, aber er fällt bei ihnen mit einer großen Sekunde bis kleinen Terz deutlich kleiner aus als bei Jungen mit etwa einer Oktave.

Sie haben gemeinsam mit dem Erlanger Universitätsklinikum eine Studie zum Ausstoß von Aerosolen erarbeitet. Darin empfehlen Sie unter Corona-Bedingungen zwei bis zweieinhalb Meter Abstand beim Singen. Gilt das auch für Kinder?

Kinder singen zwar mit mehr Nebenluft als erwachsene Profis, sprich die Luftsäule, die die Aerosole verbreitet, könnte weiter in den Raum hineingehen. Gleichzeitig artikulieren sie aber noch nicht so ausgeprägt wie Erwachsene, spucken also weniger stark bei den Konsonanten. Am Ende sollte sich beides vermutlich ausgleichen.

Auch die jungen Sänger müssen also weiter mit Abständen leben.

Ja, aber es sollte dennoch unbedingt gesungen werden, auch aus medizinischer Sicht. Singen fördert nachweislich die Gesundheit, weil dabei vermehrt Abwehrstoffe gebildet und Stresshormone vermindert werden. Und bei Kindern fördert es außerdem auch noch die Entwicklung des Gehirns.

© SZ vom 18.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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