Kurioses aus der Kommunalpolitik:Das Stahlwerk von Tutzing

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In der Traubinger Straße erhebt sich eine provisorische Luftbrücke. Nur warum? (Foto: Nila Thiel)

Er ist vier Meter hoch, 52 Meter lang und kostet 22 000 Euro: Der provisorische Fußweg entlang der Tutzinger Grundschule polarisiert. Über eine Lokalposse, die keine sein will.

Von Viktoria Spinrad, Tutzing

Nach zwei Höhenmetern wackelt die stahlgewordene Schulwegsicherheit plötzlich. Doch es hilft nichts. Noch einen Schritt die Treppe hoch. In der Luft hängt der Staub, gleich nebenan macht ein Bagger dem Anbau der Mittelschule den Garaus. Es röhrt, quietscht, ächzt. Doch ein paar Stufen fehlen noch. Also weiter in diesem Hochseilgarten ohne Seil. Noch ein Schritt. Oben wartet der Gipfel.

Willkommen auf dem Schüler-Hochweg in Tutzing. Für Adrenalinjunkies ist hier in diesen Wochen eine Attraktion geboten, die alles bisher Gewesene in den Schatten stellt. Egal, ob es die Baustellenampel mit ihren Millionen Lichtjahren Wartezeit ist oder das Hauptstraßenloch, aus dem man gleich dem Erdkern zuwinken konnte.

Das neueste Highlight im Selbstsanierungs-Tutzing ist eine provisorische Fußbrücke. Ein bauliches Ungetüm, das direkt an der Grund- und Mittelschule entlangführt. Weil diese generalsaniert wird, gleicht ihr Westteil dieser Tage eher einem Schuttplatz. Wo einmal ein Gehweg war, erhebt sich nun ein Werk aus Stahl. Es ist vier Meter hoch, 52 Meter lang, kostet etwa 22 000 Euro - und wirft mehr Fragen auf, als dass es Löcher in den Bodenplatten hat.

Wieso lotst man Schüler über diesen parallelen Plattenbau? Weshalb trendet der Aussichtspunkt nicht längst unter den beliebtesten Ausflugszielen? Und: Wer denkt sich so eine Luftnummer aus?

Einmal geht's rauf in die Höh'... (Foto: Nila Thiel)
...dort sollen Netze verhindern, dass Kinder die Brücke zum Klettergerüst machen... (Foto: Nila Thiel)
...auf der anderen Seite ist der Abgang dann plötzlich gesperrt. Wieso? Wer weiß das schon. (Foto: Nila Thiel)

Eine Frage, die sich doch einige stellen, die durch die Traubinger Straße gehen. An einem Nachmittag stapft Mama Monika Beer mit ihren zwei Töchtern am Tutzinger Höhenzug entlang. In sicherer Entfernung, versteht sich - auf dem ganz unwackligen Gehweg der anderen Straßenseite. Ihr erschließe sich der Sinn nicht, sagt sie. Auch Tochter Alisa, eine Schülerin mit bunter Mütze, scheint nicht restlos überzeugt. "Spannend, aber auch beängstigend", so das nüchterne Fazit der Erstklässlerin.

Ein vergleichsweise wohlwollendes Urteil. Im Netz wird die wilde Wackelpartie längst zerrissen. "Wer denkt sich so einen Blödsinn aus?", schreibt einer. "Das ist Vernichtung öffentlicher Gelder", ein anderer. Ein Dritter zieht Parallelen zur "Wiege von Starnberg", einer pinken Kunsttreppe, die prompt zur FDP-Wahlkampf-Bühne wurde. Möglicherweise, schreibt er, sollte man dieses Monstrum als Kunstwerk vermarkten, "dann gibt's vielleicht noch einen Kulturzuschuss vom Staat."

Dabei ist der Tutzinger Gittergang so viel mehr. Hier geht es um nichts Geringeres als die Unversehrtheit des örtlichen Nachwuchses. Dieser, so die Idee der Planer, soll auch in Zeiten des Teilabrisses wohlbehalten in und aus der Schule kommen können. "Schulwegsicherheit" nennt sich das im verkehrspädagogischen Fachjargon. Eine Straßensperrung wurde dabei verworfen - schließlich hält hier auch der Schulbus.

Die kommunalpolitische Schwarmintelligenz wollte auf Nummer sicher gehen

Auch die Idee einer Umleitung auf den Gehweg gegenüber der Schule und wieder zurück überzeugte nicht. Zu groß war die Sorge, dass die Schüler am Ende doch entlang des Bauzauns wandeln - und dabei noch über den Haufen gefahren werden. Sei es vom Baustellenverkehr oder von unbelehrbaren Elterntaxis im morgendlichen Massen-Shutteln. Ein Risiko, das keiner tragen wollte. Also ging die kommunalpolitische Schwarmintelligenz lieber auf Nummer sicher - und ließ den Hochweg auf vier Höhenmetern hochziehen. Und damit entstand eine echte Aussichtsplattform.

Von oben lässt sich genüsslich beobachten, wie der asbestzerfressene Schulanbau Stück für Stück Geschichte wird. Wie ein T-Rex frisst sich der Bagger durch das Gestein. Baustellenkino vom Feinsten, und das sogar in 4D - und ganz ohne Eintritt. Alles andere wäre aber auch eine Enttäuschung gewesen, schließlich wirbt die Baufirma mit dem markigen Slogan: "Mehr möglich. Das Gerüstsystem."

Doch kommt auch das Tutzinger Kletterabenteuer nicht ohne Kleingedrucktes aus. Auf roten Klebeschildern gibt selbst der Gerüsthersteller zu bedenken: Sollten die Platten nicht gesichert sein, "kann dies zu schweren oder tödlichen Verletzungen führen". Oh weh. Aber gut, bisher trägt die Statik ja Tag für Tag zuverlässig die rollerschleppenden Schüler. Und wackelt es doch mal etwas mehr als einem lieb ist, kann man ja immer noch rasch ein Stoßgebet nach oben zum lieben Gott senden. Wie praktisch: Dessen örtliche Dependance liegt nur wenige Meter Luftlinie entfernt.

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