Auftritt in Tutzing:"Wir profitieren von der Einwanderung"

Lesezeit: 3 min

Christian Wulff, ehemaliger Bundespräsident, plädiert in Tutzing für Vielfalt und Toleranz. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff plädiert in der Evangelischen Akademie für Vielfalt und Toleranz - und warnt vor der AfD.

Von Sylvia Böhm-Haimerl, Tutzing

Deutschland könnte eine Vorreiterrolle einnehmen wie Kanada, wenn es weltoffen mit der Vielfalt umgehen würde. Diese Meinung vertrat Christian Wulff, früherer Bundespräsident und Vorsitzender der Bundesstiftung Integration, am Samstag auf einer Tagung des "Politischen Clubs" in der Evangelischen Akademie Tutzing zum Thema "Vielfalt statt Einfalt".

Vor zehn Jahren hatte Wulff den Toleranzpreis der Evangelischen Akademie erhalten, weil er nach Angaben von Akademiedirektor Udo Hahn für eine Auseinandersetzung mit den Fremden und dem Fremden warb. Hier könnten die einzelnen Religionen laut Wulff eine Vorreiterrolle einnehmen, indem sie stärker zusammenarbeiten. Aber auch die Bürger selbst müssten sich stärker einbringen. "Das Gemeinsame, nicht das Fremde ist entscheidend", zitierte er Apostel Paulus. Mit Blick auf die jüngste Empörungswelle zur "Happy Ramadan"- Straßenbeleuchtung in Frankfurt und Köln rief Wulff zu mehr Gelassenheit auf. "Jede Religion hat ihre Bräuche." Ob Kippa, Kopftuch oder Kreuz, "da können wir tolerant sein", erklärte er. Lediglich eine Totalverschleierung lehne er ab. Wer indes Weihnachtsbeleuchtung, Kreuze oder Kopftuch verbiete, stärke nur die Fundamentalisten. Und wenn das Gipfelkreuz auf der Zugspitze entfernt werde, sei das höchst dusselig.

Newsletter abonnieren
:Alle SZ-Newsletter im Überblick

Sie wollen über das Wichtigste zum Tage weltweit Bescheid wissen, aber auch erfahren, wie das bessere Leben und Lieben gelingt? Wählen Sie aus über zwanzig Newslettern aus, welcher am besten zu Ihnen passt.

Seiner Meinung nach kann alles nebeneinander bestehen, nur so könnten Vorbehalte abgebaut werden. Insbesondere die Kinder könnten zu einem frühen Zeitpunkt einen fairen Umgang mit der Vielfalt entwickeln. Rassismus indes koste uns die Zukunft der Volkswirtschaft. Nur ein Drittel der Deutschen halte Pluralität für eine Bereicherung, aber ein Drittel halte sie auch für eine Bedrohung. In diesem Zusammenhang wies Wulff auf die jüdische Überlebende des Holocaust, Margot Friedländer hin, die einmal zu ihm gesagt habe, dass sie heute vieles an die Zeit von 1933 erinnere.

"Nie wieder dürfen wir zulassen, dass sich deutsche Bürger vor deutschen Bürgern verstecken müssen", warnte Wulff. Die guten Dinge seien völlig aus dem Blick geraten, beispielsweise, dass Pfarrer in den Kirchengemeinden oder Fußballer jeweils zu einem Fünftel eine Einwanderungsgeschichte hätten. Auch bei der Bundeswehr sind nach seinen Angaben 5000 Soldaten Muslime. "Wir profitieren von der Einwanderung." Doch davon rede keiner. Da seien noch viele Hausaufgaben zu machen; denn viele Menschen mit Migrationshintergrund fühlten sich bei uns diskriminiert.

Ein in Deutschland geborener Türke wies bei der anschließenden Diskussion auf die Hamas unterstützenden Demonstrationen nach dem Überfall der Hamas auf Israel im Oktober hin. "Glauben Sie wirklich, dass unsere muslimischen Bürger ihre Hausaufgaben gemacht haben?", fragte er den ehemaligen Bundespräsidenten. Viele türkische Gemeinden hätten sich damals umgehend davon distanziert, antwortete Wulff. Ein Lehrer erklärte, er sei gebeten worden, seinen Davidstern nicht in der Schule zu tragen, weil sich Muslime gestört fühlen könnten. Das Ergebnis könne nicht sein, die Symbole einfach wegzulassen, antwortete der 64-Jährige.

Vor zehn Jahren hat Christian Wulff den Toleranzpreis der Evangelischen Akademie erhalten. Am Samstag sprach er hier auf Einladung des "Politischen Clubs". (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Hier könnten die Religionsgemeinschaften die Initiative ergreifen. Schließlich sei auch die Montagsrevolution in der DDR von Millionen Christen ausgegangen. Eine Gesellschaft ohne Religion zeichne sich durch Blutleere aus, betonte Wulff. "Lasst die Muslime ihren Ramadan und die Christen ihr Weihnachten feiern." Anstatt wieder mehr Veranstaltungen in der Öffentlichkeit zu zelebrieren, würden sich die Kirchen indes zurückziehen. Das sei ein Problem, sagte Wulff. Auch ein größeres Wirtschaftswachstum könnte zu einem friedlichen Zusammenleben beitragen. Es könnte die Menschen leichter in Arbeit bringen, damit sie Steuern und Abgaben zahlten. Der Bau von mehr Wohnungen sei ebenfalls wichtig.

Immer wieder warnte Wulff vor der AfD. So rufe etwa der AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl, Maximilian Krah, Deutschtürken dazu auf, eine Partei zu wählen, die weitere Zuwanderung blockiere, damit sie den ehemaligen Einwanderern nicht Wohnungen und Arbeit wegnähmen. "Das ist perfide", betonte Wulff, der Krah als fundamentalistischen Katholiken bezeichnete. Daher sollte man seiner Ansicht nach nicht nur über den islamischen Fundamentalismus reden, sondern auch über den katholischen.

Bei der Diskussion kam die Frage auf, warum die AfD nicht verboten werde. Wulff enthielt sich der Stimme. Als Altbundespräsident mische er sich nicht ein. Diese Diskussion gehöre in den Bundestag und den Bundesrat. Doch alle Bürger sollten den politischen Streit führen, um das Risiko, dass die AfD gewählt wird, zu minimieren.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusRoboter im Altersheim
:"Hallo Elisabeth, hast du einen schönen Tag bisher gehabt?"

Roboter Navel hat Kulleraugen, kann sprechen - und die Seele streicheln: In einem Herrschinger Altersheim läuft ein Experiment. Kann der Roboter die Pflege revolutionieren?

Von Viktoria Spinrad (Text), Nila Thiel und Robert Haas (Fotos und Videos)

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: