Der Riss läuft mitten durch das Herzstück des Bareisls, einen Spielplatz. Dort in der Tutzinger Wohnsiedlung hat sich eine Menschentraube, Eltern und Kinder, unter einen Baum gerettet. Platzregen, mitten in die Vogelzwitscher-Idylle hinein. Mittendrin: Anna Jung. Die 39-Jährige mit den langen blonden Haaren und dem geraden Blick wohnt hier, seit sie fünf Jahre alt ist. Eine Art Chronistin des Lebens hier oben auf dem Hügel. Sie schaut über die Büsche, in denen sie selber früher gespielt hat. Den Hügel, den ihr Vater, der Hausmeister, eigens aufgeschüttet hat. Die Schlucht, entlang derer sich nun ihr Sohn Marcel, 13, austobt. "Ich wüsste nicht, wo man es besser haben könnte", sagt sie. Aber was denn mit den Kindern sei, wenn es so käme wie angekündigt?
Zwei Wochen ist es her, dass der Besitzer des früheren Bundeswehrblocks auf den Anhöhen des Tutzinger Westens seine Idee für ein weiteres Haus auf dem Gelände öffentlich gemacht hat. Wo derzeit Kinder rutschen und Eltern ratschen, stünde dann ein Haus mit 21 Wohnungen. Was für den Investor ein logischer Lückenschluss zu den drei hufeisenartig angeordneten Blöcken mit hundert Wohnungen wäre, sehen sie hier als blanken "Wahnsinn". Schnell entstanden eine Webseite und eine Petition mit dem kämpferischen Titel: "Rettet den Bareisl". Kinder wurden auf Stimmenfang geschickt, Gemeinderäte empfangen, das Areal zur Illustration mit Absperrband markiert.
Die Verteidigungslinien der Anwohner verlaufen seitdem irgendwo zwischen hohen Mieten, Vogelschutz und Verkehrsbelastung. Worauf man sich nun am ehesten stützen sollte, so ganz einig ist man sich da noch nicht. Fest steht: Die meisten sind dagegen, die Oase soll so bleiben, wie sie ist. Das ist die eine Seite. Die andere Sichtweise ist: In Tutzing können 87 Quadratmeter mittlerweile 2200 Euro Kaltmiete kosten, und im Zweifel ist jede Wohnung ein potenzielles neues Zuhause für eine Kita-Leitung, einen Arzt oder eine Lehrerfamilie.
Nur ist die Frage, wer am ehesten Recht hat: Die Anwohner, die um ihre Lebensqualität fürchten? Der Investor, der Mietwohnungen schaffen will zu Preisen, die weder günstig noch völlig überzogen sein dürften? Die Menschen, die es hier vielleicht auch mal schön haben könnten?
Garagen, Regengüsse, Schimmel, nistende Graureiher: Der Wortführer des Protests hat viel mitzuteilen an diesem Nachmittag. Korbinian Schlingermann wohnt zusammen mit Partnerin und Sohn gleich an der Schlucht. Durch Zufall, erzählt er, habe er von Tagesordnungspunkt sechs der Bauausschusssitzung Mitte Mai erfahren: "Neubau eines Mehrfamilienhauses im Bereich der Wohnanlage Am Bareisl; Vorstellung des Vorhabens". Er ging hin und hörte sich die Details an. 138 Quadratmeter Kinderspielplatz, 715 Quadratmeter Neubau, 1613 Quadratmeter Tiefgarage. "Wahnsinn" und "Tragödie", nennt er das. "Wer spricht denn hier für die Kinder?"
Seit der Münchner Investor seine Vision im Tutzinger Rathaus vorgestellt hat, sammelt Schlingermann Argumente wie ein Detektiv. Er berechnet Spielflächen und Parkplatzgrößen, sammelt Details historischer Regengüsse und die Miethöhen der anderen. Die nähern sich zunehmend dem Münchner Niveau an, seit die früheren Bundeswehrwohnungen auf den normalen Mietmarkt gespült wurden. Neumieter zahlen hier bereits mehr als 20 Euro pro Quadratmeter warm - was wiederum in etwa im Tutzinger Schnitt liegt, und - der Logik des freien Mietmarkts mit chronisch geringem Angebot folgend - diesen wiederum weiter hochtreibt. Schlingermann klopft auf ein Holzgeländer vor seinem Balkon, neben dem es steil die Schlucht hinuntergeht. "So tickt die Eigenheimbau", sagt er.
Diese Immobilienfirma sitzt 34 Kilometer nordöstlich von Tutzing im ersten Stock eines schmucklosen Wohnhauses in der Münchner Maxvorstadt. Von hier aus verwaltet Geschäftsführer Stefan Schmidt zusammen mit einer Handvoll Angestellten insgesamt 240 eigene Wohnungen in Tutzing, Neuried, München und Leipzig. 1956 hatte sein Vater die Eigenheimbau GmbH mitgegründet, es waren die goldenen Nachkriegsjahre. Sein Vater baute die drei Siedlungen Luswiese, Bareisl und Höhenberg, damals zogen vor allem Bundeswehr-Angehörige und ihre Familien ein. Im Besprechungszimmer deutet Schmidt auf ein Luftbild des Areals. Rettet den Bareisl? "Ich will hier gar nichts zerstören", sagt er.
Auch er hat Detektivarbeit geleistet. Auf dem Schreibtisch vor ihm lädt er Aktenordner ab, breitet Dokumente aus. Baupläne, Auflistungen von Investitionen, bisherige Berichte über den Anwohnerprotest, mit Kugelschreiber unterkringelt, ein Poster mit der Überschrift "Wir sind hier - wir sind viele". Zeugnisse des Widerstands. Ein wenig geschockt sei er schon, sagt Schmidt. So etwas habe er noch nie erlebt.
Schmidt setzt sich die Lesebrille auf, er hat hier etwas klarzustellen. Er kennt die Gegenargumente der Anwohner, sie stehen ja alle mit Aufzählungspunkten auf der Webseite. Zu jedem hat er eine Klarstellung parat. Das Hauptargument, der Zubau des Spielplatzes? Er schüttelt den Kopf und deutet auf den Bauplan. Der Spielplatz solle nicht verkleinert, sondern versetzt werden. Dafür könne auch der zusätzliche Platz benutzt werden, der gewonnen wird, wenn seitlich gelegene Garagen für die Tiefgarage wegkämen. Doch auch er gesteht ein: "Klar, dass es weniger Grünfläche würde."
Dass hier hauptsächlich kleine Wohnungen entstehen sollten? "Völliger Schmarrn", sagt er, und fährt mit dem Finger entlang von Bleistiftnotizen auf einem Zettel. Demnach sollen sieben Zwei-Zimmer-Wohnungen mit fast 70 Quadratmetern entstehen, 13 Drei-Zimmer-Wohnungen à 110 und eine Vier-Zimmer-Wohnung mit 135 Quadratmetern. "Das ist fast eher auf Familien ausgerichtet", sagt er. Die Mieten? "Ortsüblich", zumal manche Wohnungen für mehr als 60 000 Euro saniert worden seien und manche langjährige Mieter dort noch sieben, acht Euro pro Quadratmeter zahlten. Tatsächlich zahlen viele hier zwischen zwölf und 15 Euro pro Quadratmeter - ein Preis, den sie so in Tutzing aktuell nicht mehr finden würden, gerade nach den Corona-Jahren, wo es viele ins grüne Münchner Umland gezogen hat.
Ob hier überhaupt gebaut werden darf, ist noch lange nicht klar
Viele bemängeln eine schlechte Instandhaltung der Gebäude. Über zwei Millionen Euro seien seit 2012 in die Anlage investiert worden, entgegnet Schmidt. Dächer, Balkone, Geländer, Treppenhäuser, bis hin zur Briefkastenanlage. "Eine Frechheit" sei es, nun von Schimmel und Legionellen zu sprechen: Die Häuser seien alle frisch gestrichen worden, und wenn es irgendwo Schimmel gebe, sei es schließlich im Interesse der Eigenheimbau, dass dieser möglichst schnell beseitigt werde. Und die Sorge vor zu wenigen Stellplätzen? Schmidt schiebt den Daumen auf der Karte über die Fläche, wo in seiner Vorstellung mal die Einfahrt der Tiefgarage hin soll. Wenn sich ein entsprechender Bedarf abzeichne, könne diese ja auch zweistöckig gebaut werden. "Es steht ja eh noch alles in den Sternen."
Die Idee, am Bareisl mehr Wohnungen zu bauen, ist keine neue. Das Areal sei von seinem Vater immer als geschlossen gedacht gewesen, sagt Schmidt, das jetzige "U" sei einem damaligen Baum mit Fledermäusen geschuldet gewesen. Bereits 2003 und 2009 ist Schmidt bei der Gemeinde aufgeschlagen mit dem Versuch, hier mehr Wohnungen zu errichten. Jedes Mal holte er sich eine Abfuhr. Damals polterte der Gemeinderat von "städtebaulicher Brutalität" und "einem Rückfall in die Sechzigerjahre". Nachdem die Dächer neu gemacht worden seien, sei Aufstocken für ihn derzeit kein Thema mehr, sagt Schmidt. Doch dem Neubau gegenüber hat sich der Bauausschuss grundsätzlich offen gezeigt. Sie verstehe ja die Angst der Anwohner, sagt Bürgermeisterin Marlene Greinwald (FW). "Aber wir brauchen dringend Mietraum, und das in vielen Preissegmenten."
Alles hängt nun an einer Frage: Liegt das Areal an der Schlucht überhaupt im Innenbereich, der grundsätzlich bebaut werden darf, egal was man im Tutzinger Rathaus meint? Das muss das Landratsamt entscheiden, sollte Schmidt seinen Bauantrag einreichen. Angesichts der Proteste im Nacken dürfte es keine einfache Ermessensentscheidung werden. Die Gemeinde hätte dann praktisch keine Handhabe. Sollten die Juristen den verwunschenen Innenhof aber dem Außenbereich zuordnen, würde der "Schwarze Peter" bei der Gemeinde liegen. Sie müsste dann entscheiden, ob es sich lohnt, extra einen Bebauungsplan aufzustellen. Dafür gibt es bereits einen Stau im Bauamt, weshalb man sich darauf nur einlassen dürfte, wenn Investor Schmidt der Kommune mit deutlich mehr Zugeständnissen als den nun versprochenen 14 sozial gebundenen Wohnungen entgegenkommt.
Will sich hier einer nur Rosinen rauspicken und am Ende teuer Eigentumswohnungen verkaufen? Er gedenke nicht, die Wohnungen jemals abzugeben, versichert Schmidt, und dreht die Hand im Kreis: "Wir denken langfristig". Etwas, das ihm auch viele im Ort abnehmen. Irgendwo, sagt er, sei es ja auch ein gutes Zeichen, dass die Anwohner um ihre Anlage kämpfen. Es zeige, dass sie sich mit ihr identifizieren. Schock hin oder her, vollends scheint ihn die Gegenwehr am Bareisl nicht abgeschreckt zu haben. Er wolle mit den Menschen vor Ort ins Gespräch kommen, sagt er. "Wir werden das weiter verfolgen."
Am Donnerstag, 1. Juni, lädt die Gemeinde um 18 Uhr zur Informationsveranstaltung über die rechtlichen Aspekte des Bauvorhabens ins Rathaus ein. Am Mittwoch, 14. Juni wiederum lädt die Eigenheimbau um 18 Uhr zum Informationstermin auf betreffender Wiese.