SZ-Adventskalender:"Ich liebe meine Arbeit sehr"

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Der Kontakt zu Kollegen hat gerade für Menschen mit Behinderung einen besonderen Stellenwert. So geht es auch Selda Bedir, die in den IWL-Werkstätten viele Freunde hat. Ein spezielles Programm soll die Rückkehr nach dem Teil-Lockdown erleichtern.

Von Jessica Schober, Andechs

Für Menschen mit Behinderung bedeutet die Corona-Pandemie in vielerlei Hinsicht weniger Teilhabe am öffentlichen Leben - vor allem bei der Arbeit. Eine der Betroffenen ist Selda Bedir. Sie ist 36 Jahre alt und arbeitet in der Küchenabteilung der IWL-Werkstätten in Machtlfing. Zu ihren Aufgaben gehört es, Geschirr abzutrocknen, Essen aufzuwärmen und Flächen abzuwischen. "Hygiene ist in meinem Beruf sehr wichtig", sagt Bedir im Telefoninterview.

Sie wohnt bei ihrer Mutter, um halb acht Uhr morgens holt sie der Bus ab und fährt sie in die Arbeit. Dort zieht sie ihre schwarze Küchenhaube und Schürze an. Feierabend ist um 16 Uhr. "Jetzt tragen wir bei der Arbeit in der Küche ständig Mundschutz. Manchmal kriege ich darunter nicht so gut Luft und muss öfter raus zum Durchschnaufen", erzählt Bedir. "Als wir zu Beginn der Corona-Pandemie alle Zuhause bleiben mussten, dachte ich, ich hätte meinen Arbeitsplatz verloren. Aber ich habe gelernt, zur Ruhe zu kommen und nicht gleich in Panik zu verfallen."

An ihrem Arbeitsplatz in der Küche der IWL-Werkstätten trägt Selda Bedir durchgängig Mundschutz, fürs Foto nahm die 36-Jährige ihn kurz ab. (Foto: Georgine Treybal)

In den IWL-Werkstätten für Menschen mit Behinderung in Machtlfing sollen 185 Beschäftigte am Arbeitsleben teilhaben, sie arbeiten in der Küche oder in der Schreinerei, in der Möbelfertigung, in der Hygienemontage für die Medizinindustrie, im Gebäudeservice und in der Gartenlandschaftspflege. Die Mitarbeiter im Alter von 17 bis 65 sind vor allem Menschen mit geistiger Behinderung.

Um das Gefühl von Selbstwirksamkeit am Arbeitsplatz wieder stärker erleben zu können, würde die Werkstätte gern in eine Software investieren namens "Der schlaue Klaus". Das ein Assistenzsystem, mit dem einzelne Montageschritte unabhängig von den Mitarbeitern mit Behinderung umgesetzt werden können. Mit Hilfe von Kameratechnik und industrieller Bildverarbeitung könnten so unter anderem die im Lockdown verlernten Arbeitsschritte selbständig wieder einstudiert werden. Ein kleiner Schritt in Richtung der verloren gegangenen Normalität.

"Unsere Werkstatt ist eine Schnittstelle", sagen Alexander Härtl und Anna Ottermann von der IWL-Betriebsleitung, "Wir haben sowohl die persönlichen Beschränkungen für unsere Mitarbeiter mit Behinderung mitbekommen, aber auch den Druck als wirtschaftliches Unternehmen während der Coronapandemie gespürt." So beliefern die IWL-Werkstätten Industriekunden, die auch während der Pandemie nicht auf ihre Teile warten konnten. Also mussten die 50 angestellten Fachkräfte die Arbeit der fehlenden 185 Kollegen mit Behinderung komplett übernehmen. "Das war ein ganz schöner Spagat, das Jahr hat von uns allen viel Flexibilität verlangt", sagen Härtl und Ottermann. Aber auch der soziale Austausch bei der Arbeit musste stark zurückgefahren werden. "Früher war es eine unserer Stärken, dass unsere Mitarbeiter mit Behinderung je nach Interesse auch mal in eine andere Arbeitsgruppe wechseln konnten", sagt Ottermann. Das geht jetzt nicht mehr.

(Foto: SZ Grafik)

Die Zeit der Betretungsverbote haben viele Mitarbeiter als echten Einschnitt erlebt. "Als ich im Juli endlich wieder in die Arbeit konnte, fühlte ich mich zuerst ganz frei", erzählt Selda Bedir. "Ich liebe meine Arbeit sehr und habe viele Freunde unter meinen Kollegen. Im Lockdown konnten wir nur telefonieren oder Handy-Nachrichten schreiben."

Im Juli sind die ersten Mitarbeiter wieder in den Betrieb gekommen, "viele waren froh, aber auch verunsichert", erzählen Betriebsleiter Härtl und Ottermann. Zwölf Mitarbeiter mit Behinderung seien bis heute noch nicht wieder zurück am Arbeitsplatz. Mit dem durchgängigem Maskentragen außerhalb des Arbeitsplatzes hätten weite Teile der Belegschaft aber gute Erfahrungen gemacht, berichtet Härtl. Bisher habe es zwei Corona-Fälle unter den Beschäftigten gegeben. Das bedeutete zwei Mal zwei Wochen Quarantäne. "Aber es gab keine Übertragungen an andere Beschäftigte", sagt Härtl. An die Quarantäne erinnert sich auch Selda Bedir: "Wir hatten einen positiven Coronafall in meiner Arbeitsgruppe und dann mussten wir alle wieder in Quarantäne für zwei Wochen. Da war mir dann wirklich langweilig; ich hatte genug vom Fernsehschauen und Handytippen. Nicht mal meinen Bruder und meine Mutter durfte ich umarmen, ich war froh, als ich wieder aus der Quarantäne raus konnte", sagt die 36-Jährige.

Für viele Mitarbeiter mit Behinderung sei es enorm wichtig gewesen, die Kollegen wieder zu sehen, wieder eine Aufgabe und eine Struktur zu haben, erzählen Ottermann und Härtl. "Aber einige haben in der Zeit des Teil-Lockdowns auch ihre täglichen Handgriffe und Routinen verlernt. Manche Arbeitsschritte, beispielsweise wie man eine Fräsmaschine in der Schreinerei bedient, mussten erst wieder neu eingeübt werden." Außerdem kamen sehr viele neue Regeln, Pausenzeiten und Hygienekonzepte hinzu.

Seit Beginn der Pandemie ist zwar der Kaffee kostenlos, um den Bargeldverkehr zu beschränken, doch allein in der Küche bei Selda Bedir gibt es viele kleine Handgriffe, die nun anders sind als vorher. Das Besteck wurde aus den Tablettwagen genommen, Gabeln und Messer werden nun in eine Serviette eingewickelt überreicht. Mit der Rückkehr der ersten Beschäftigten und dem Wiederbeginn der Speisenausgabe wurden zahlreiche Plexiglasscheiben montiert. Die Essenszeiten im Speisesaal wurden neu getaktet, ein gemütliches Beisammensitzen mit Leuten aus anderen Arbeitsgruppen ist nicht mehr möglich. All das erschwert die Teilhabe. "Für den Inklusionsgedanken ist das sehr tragisch, was gerade passiert", sagt Ottermann.

© SZ vom 05.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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