Jubiläum:Die Glücksfee

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Mitbegründerin der Starnberger Stiftung "Kindness for Kids", die sich für Kinder mit seltenen Erkrankungen einsetzt. Hier im Chiemgau-Camp mit Marvin (links) und Dennis (rechts). (Foto: privat)

Seit 20 Jahren setzt sich die Starnbergerin Anja Frankenberger für Kinder mit seltenen Erkrankungen ein. Über eine Frau, die ihr Leben änderte - und nun das anderer bereichert.

Von Viktoria Spinrad, Starnberg

Was haben sie nicht schon alles erlebt. Die Kutschfahrt im Wind, so kalt, dass alle nur noch ins Warme wollten. Mit 24 Leuten spontan ins japanische Restaurant, das nur vier Gerichte auf der Speisekarte hatte und sich als mies bewerteter 1,5-Sterne-Laden entpuppte. Und natürlich die Geschichte mit der Thunfisch-Pizza. Die wanderte mittels Schieber aus dem großen Pizzaofen, um dann prompt auf der Erde zu landen. "Die ist sogar noch über den Boden geglitten", sagt Marvin Priester. "Der komplette Tisch hatte Atemnot vor Lachen", sagt Dennis Quint.

Ein Videocall ins Chiemgau. Quint, 23, trägt Schalke-Käppi, Priester, 27, ein DFB-Trikot. Zwei Freunde, die ihre Sätze gegenseitig ergänzen. Dabei ist es genau genommen eine Fernfreundschaft. Priester lebt in Ludwigshafen, Quint im über 300 Fahrkilometer entfernten Essen. Verbunden sind sie trotzdem. Sie schreiben sich Whatsapps, zocken Fifa. Und einmal im Jahr sehen sie sich in einem Camp am Chiemsee. Dann teilen sie sich ein Zimmer, reden lange und lachen. "Hier brauchen wir gar nicht zocken", sagt Quint. "Hier sind wir unter Gleichgesinnten", sagt Priester.

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Beide sitzen im Rollstuhl, ihre Muskeln bauen ab. Dennis Quint hat eine sogenannte "Duchenne Muskeldystrophie", er verliert fortschreitend Muskelgewebe. Marvin Priester hat hereditäre, sensomotorische Neuropathie Typ 1, seine Nerven bauen ab. Es sind Krankheiten, die bei nicht mehr als einem von 2000 Menschen vorkommen. Damit gehören sie den sogenannten "seltenen Erkrankungen." Der Alltag ist mühsam, Quint muss nachts beatmet werden, bei Priester könnte es eines Tages notwendig werden.

Doch sie haben sich, und sie haben Anja Frankenberger. Eine Starnbergerin, die beim Videocall ebenfalls ins Bild winkt. Helle, gelockte Haare, breites Lächeln - eine Frau wie eine Glücksfee. Als Schalke in die zweite Liga abstieg, sprach sie Dennis gut zu. Als Priesters Oma starb, tröstete sie ihn. Einmal im Jahr holt die 52-Jährige eine Gruppe junger Erwachsener mit seltenen Erkrankungen ins Chiemgau-Camp, für ein paar Tage Normalität. "Sie ist unsere Ersatzmutter", sagt Priester und lacht.

Vom Chiemgau in die Starnberger Maximilianstraße. In einem denkmalgeschützten Haus mit Turm ist der Sitz der Stiftung "Kindness for Kids". An den Wänden hängen bunte Bilder von Kindern, neben Frankenbergers Schreibtisch steht eine Spendenbox. 20 Jahre ist es her, dass sie gemeinsam mit ihrer Cousine Carolin Engelhorn die Stiftung gründete, um Kinder mit seltenen Erkrankungen zu helfen. Solchen, die kleinwüchsig sind, die vorzeitig altern, oder deren Muskeln eben abbauen. Menschen wie Dennis Quint und Marvin Priester. "Viele erleben eine Odyssee", sagt Frankenberger.

Die Geschichte der Starnbergerin und ihrer Stiftung ist auch eine über Sinn, Glück und die Frage, was zählt im Leben.

Vor Weihnachten hat Frankenberger in Geschenke für die Kinder in verschiedenen Kliniken vorbeigebracht. (Foto: privat)

Lebensbegleiterin? Ersatzmutter? Dass Frankenberger heute junge Menschen mit Behinderungen begleitet und Förderanträge stellt, war so eigentlich nicht gedacht. Ihr Weg war ganz anders angelegt. Sie kommt aus einer Medizinerfamilie. Für das Studium liebäugelte sie mit Biologie, am Ende wurde es Jura, "eine Verlegenheitslösung". Jahre später jagte sie als Headhunterin für Unternehmen gefragten Köpfen hinterher. Aus kapitalistischer Sicht war sie ganz oben.

Doch Frankenberger war nicht glücklich. In Firmen anrufen, Menschen abwerben, und dann wieder alles von vorn, "das war ich nicht", sagt sie. Als ihr Vater schwer krank war, wurde ihr klar, sie muss etwas ändern. Derweil hatte ihre Cousine in der Arbeit in einer Ambulanz für Kinder mit Immundefekten gesehen, wie ohnmächtig Familien waren in diesem Bereich, in dem es kaum Hoffnung gab. Eine Stiftung mit aufziehen, auch mit ihrem juristischen Know-how? Frankenberger war Feuer und Flamme. Sie dachte sich: Entweder es fliegt. Oder es fliegt eben nicht.

Zwischen 200 000 und 400 000 Euro sammelt die Stiftung im Jahr

Es folgten ein erstes kleines Golfturnier, erste Kontakte in die Forschung, das erste Kindercamp. Da war sie gerade schwanger, ein Wagnis. Eines, das aufging: 20 Jahre später verteilt ihre Stiftung jährlich zwischen 200 000 und 400 000 Euro. Seit der Gründung wurden etwa 1500 Menschen unterstützt. Die Kinder haben Krankheiten wie Progerie, also vorzeitiges Altern und Kinderdemenz. Mit vielen ist Frankenberger das ganze Jahr über immer wieder im Whatsapp-Kontakt.

So auch mit Marvin Priester. Seit 2007 kennen sich die beiden, da konnte er noch Fußball spielen. Mittlerweile könnte er aus eigener Kraft nicht mehr aufrecht sitzen, wenn er nicht operiert worden wäre. Als er in der Coronazeit zum isolierten Risikopatienten wurde und kurz davor war, seinen Ausbildungsplatz zu verlieren, vermittelte Frankenberger ihm einen Psychologen. Jede Woche sprachen die beiden, er lernte, wie er besser lernen und seinen Alltag strukturieren kann. "Die Stiftung hat mich aus dem Loch gezogen", sagt er.

Gemeinsam haben Betroffene eine Geburtstagscollage aus vielen kleinen Kinderbildern erstellt. (Foto: Franz Xaver Fuchs)
Anja Frankenberger vor einem Bild, das Kinder bemalt haben. Ein Fotograf porträtierte einen Jungen im Camp. (Foto: Franz Xaver Fuchs)
Neben Frankenbergers Schreibtisch steht eine Spendenbox. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Mehr als 6000 seltene Erkrankungen sind mittlerweile bekannt, etwa 250 kommen jedes Jahr hinzu. Es ist paradox: Während die einzelnen Fallzahlen oft sehr gering sind, gibt es in der Summe viele Betroffene. Alleine in Deutschland leben Schätzungen zufolge etwa vier Millionen Betroffene, in der Europäischen Union geht man von 30 Millionen aus. "Waisenkinder der Medizin", werden diese auch genannt, schließlich lohnt sich großangelegte Forschung kaum für die Pharmaindustrie. Dahinter stecken häufig Gendefekte, weshalb viele seltenen Erkrankungen auch als nicht heilbar gelten.

Im Starnberger Stiftungsbüro holt Frankenberger eine Collage mit Schnappschüssen aus 20 Jahren hervor. Sie fährt mit dem Finger entlang. Kinder am Pool, mit Schwimmweste, im "Rolli". Zu jedem Kind kennt sie die Geschichte, einige enden viel zu früh. "Gestorben, gestorben, gestorben." Wie geht man damit um, wenn das Leben von Kindern, die man begleitet hat, plötzlich endet? Frankenberger legt die Hand auf ihr Herz. Klar mache das etwas mit ihr, sagt sie. Manchmal braucht sie Zeit, sich dann wieder zu sortieren. Sie tröstet der Gedanke, dass die Menschen an einem schönen Ort sind. Zudem, sagt sie, verändere sich die Einstellung aufs Leben. "Man wird dankbar und demütig."

Zudem da ja auch noch die positiven Fälle sind, wie der eines Mädchens mit einer seltenen Autoimmunerkrankung. Frankenberger erzählt: Der behandelnde Arzt verschrieb ihr so viel Cortisol, dass sie 30 Kilo zunahm und so sehr für ihren Körper schämte, dass sie nicht mehr schwimmen wollte. Dann bekam sie ein neuartiges Medikament, das anschlug. Heute, sagt Frankenberger, sei sie eine komplett selbstständige Frau ohne Medikamente. Es sind auch solche Fälle, die Frankenberger motivieren, weiterzumachen. Genau wie die Tatsache, dass sich auch strukturell etwas tut. Mittlerweile gibt es Selbsthilfegruppen, mehr als 30 Zentren für seltene Erkrankungen und einen nationalen Aktionsplan.

Einer spendete seine Gitarren an die Stiftung. Sie wanderten weiter an eine Inklusionsschule. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Neben dem jährlichen Camp im Chiemgau finanziert ihre Stiftung noch weitere Feriencamps, psychosoziale Beratung für Betroffene, Avatare für chronisch kranke Kinder - und eine eigene Stiftungsprofessur. Viele Eltern rennen jahrelang von Arzt zu Arzt, bis sie eine Diagnose bekommen - mit der Professur sollen die Strukturen in der Gesundheitsbranche verbessert werden. Ein breites Portfolio also für den Fünf-Frau-Betrieb in Starnberg. In der Lobbyszene für seltene Erkrankungen sticht die Stiftung damit raus. "Sie ist ein kleiner Leuchtturm", sagt Christine Mundlos, stellvertretende Geschäftsführerin der "Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen" (Achse), einem Zusammenschluss von Selbsthilfeorganisationen und Stiftungen.

Die Lichter des Leuchtturms lagern oben im Speicher des Starnberger Büros. Gespendete Regenparkas für Allwetterausflüge, Kuscheltiere für Kinder im Krankenhaus, Kartons mit bunten Klamotten für digitale Faschingspartys. Materialien für das Leben, jetzt und hier. Glückliche Momente erschaffen, auch darum geht es Frankenberger. In der Coronazeit organisierte sie Online-Camps und digitale Krimidinner. Wunder können sie nicht verbringen. "Aber wir können das Leben der Menschen bunter und schöner gestalten", sagt sie.

"Ich finde große Erfüllung in dem, was ich tue."

Dass helfen auch einen selbst glücklich macht, hat die Forschung längst nachgewiesen. Zu wissen, dass sie das Leben von Menschen wie Marvin Priester und Dennis Quint verbessert, mache sie sehr zufrieden, sagt sie. "Nicht eine Sekunde" habe sie bereut, ihr altes Leben aufgegeben zu haben, sagt sie. "Ich finde große Erfüllung in dem, was ich tue." Die Zeit in der Akquise, das Wissen, wie man mit hochkarätigen Menschen umgeht, all das kommt ihr heute zugute, wenn sie Gelder und Charity-Veranstaltungen organisiert.

Wie geht es weiter? An politischen Baustellen mangelt es nicht. Fallmanager, die betroffene Familien durch den Zuständigkeitsdschungel lotsen - "davon können wir in Deutschland nur träumen", sagt sie. Von einer digitalen Patientenakte ganz zu schweigen. Während die Lobbyarbeit im Großen weitergeht, soll es ihren Schützlingen im Kleinen besser gehen.

Dennis Quint möchte selbstständiger werden, mehr auf eigenen Füßen stehen - auch dabei hilft sie. Derweil träumt Marvin Priester von einem normalen Leben mit einer eigenen Familie. Und natürlich vom nächsten Abenteuercamp im Chiemgau, mit Freund Dennis und Ersatzmama Anja. Ein Dreivierteljahr noch, dann sehen sie sich wieder.

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