Psychische Gesundheit von Geflüchteten:"Die Helfer werden oft alleingelassen"

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Kinder und Jugendliche, die Flucht miterlebt haben, tragen oft psychische Schäden davon. (Foto: Herbert P. Oczeret/dpa)

Der Diplom-Psychologe Thomas Sulzer kümmert sich ehrenamtlich um Flüchtlinge. Dabei hat er oft mit Kindern und Jugendlichen mit psychischen Problemen zu tun. Ein Gespräch über den Bedarf der Kleinsten - und die Tücken des Systems.

Interview von Linus Freymark, Starnberg

In der Migrationsdebatte heißt es oft, es würden ausschließlich oder zumindest überwiegend junge Männer nach Deutschland kommen. Dabei wird oft übersehen: Es gibt auch viele Familien, die versuchen, sich hier ein neues Leben aufzubauen. Manche von ihnen haben mit psychischen Problemen und Erkrankungen zu tun. Gerade für Kinder aber sind die Unterstützungsangebote rar. Der Diplom-Psychologe Thomas Sulzer bietet mit seinem Starnberger Verein Soulsupport ehrenamtlich psychologische Unterstützung für Geflüchtete an und hat dabei auch immer wieder mit Familien mit Kindern zu tun.

SZ: Herr Sulzer, Sie kümmern sich unter anderem um geflüchtete Familien. Wie nehmen Sie deren Situation derzeit wahr?

Thomas Sulzer: Die meisten Familien, die wir betreuen, sind schon länger da. Sie haben einen Aufenthaltstitel oder ein Abschiebeverbot. Viele Kinder aus diesen Familien gehen inzwischen zur Schule. Manche von ihnen schaffen die Mittelschule. Andere sind sogar noch besser - und dann gibt es aber eben auch Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten.

Stellen Sie das bei geflüchteten Kindern überproportional häufig fest? Das Zurücklassen der Heimat, die Erlebnisse auf der Flucht - das hinterlässt doch sicher Spuren.

Es gibt keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu, ob so etwas bei geflüchteten Kindern überdurchschnittlich oft vorkommt. Aber natürlich gibt es auch unter geflüchteten Kindern welche mit Verhaltensauffälligkeiten wie Essstörungen oder sozialem Rückzug. Die möglichen Erklärungen dafür sind vielschichtig: Die Auffälligkeiten können etwa neurologisch bedingte Beeinträchtigungen sein - oder sie rühren tatsächlich aus der Fluchtgeschichte und kulturbedingten und sozialen Schwierigkeiten beim Start in Deutschland. Aber man kann sagen: Von vier Kindern braucht eines immer besonders viel Aufmerksamkeit. Als Psychologe kann ich gerade mit Blick auf Kinder sagen: Es gibt immer eine individuelle Thematik - und die des Kontextes. Neben der eigenen Geschichte und Veranlagung spielen natürlich also auch die psychosozialen Hintergründe der anderen Familienmitglieder immer eine Rolle. Das muss man bei der Diagnostik berücksichtigen.

Viele Familien leben in Containerunterkünften. Welche Rolle spielt die Form der Unterbringung für das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen?

Eine große. Viele der Unterkünfte sind eigentlich zu klein - und oft herrscht dort Chaos. Wenn der Fernseher die ganze Zeit läuft und die Zimmer verdunkelt sind, frage ich mich als Psychologe schon manchmal, wie die Kinder in so einer Umgebung lernen und Hausaufgaben machen sollen. Das muss man den Eltern dann erklären. Ihnen unser Schulsystem erklären . Oft fehlen den Eltern ausreichend deutsche Sprachkenntnisse. Dann wird es schwierig mit der elterlichen Unterstützung. Wir sehen keine Kinderbücher. Die Regel sind eher Online-Spiele, Cartoons und Trickfilme.

Manche geflüchtete Kinder oder Jugendliche benötigen therapeutische Hilfe. Wie ist unser System denn in diesem Bereich aufgestellt? Bekommen alle die Hilfe, die sie benötigen?

Das Problem dabei: Um die richtige Diagnose stellen zu können und den Kindern die notwendige Hilfe zukommen zu lassen, müssen die Kinder oft zu verschiedenen Ärzten. Man weiß ja zunächst nicht, was die Ursache für die Verhaltensauffälligkeiten oder Erkrankungen ist. Und da sind wir schnell in einer Kette von Überweisungsabläufen, die Menschen, die oft kein Deutsch können, schnell überfordert und die diese Schritte dann nicht mehr mitgehen können. Die bleiben dann auf der Strecke.

Das klingt mal wieder nach einem riesigen bürokratischen Akt. Was braucht es denn alles, bis die Kinder Hilfe bekommen?

Die erste Anlaufstelle ist immer der Kinderarzt. Der muss das Kind dann zur Abklärung zu einem fachpsychiatrischen Gutachter schicken. Der muss ein Gutachten anfertigen, auf dessen Basis dann darüber entschieden wird, ob eine Behandlung notwendig ist und die Kosten dafür von der Krankenkasse oder dem Sozialamt übernommen werden. Was glauben Sie, wie lange es dauert, bis die Finanzierung etwa für eine heilpädagogische Betreuung geklärt ist?

Pessimistisch geschätzt - ein Jahr?

Nicht ganz. Aber mit sechs bis acht Monaten muss man rechnen. Bei Erwachsenen mag das zumutbar sein. Aber in der Entwicklung eines Kindes vor allem in der Vorschulphase und Kindergartenwelt ist das eine enorm lange Zeitspanne. Da wäre es wichtig, dass schnell etwas passiert und das Kind rasch die notwendigen Hilfen bekommt. Da besteht Einigkeit zwischen allen involvierten Akteuren: Die Verfahren müssen beschleunigt werden. Das hilft sowohl unserem System als auch den Geflüchteten. Denn die Ärzteschaft ist chronisch überlastet. Wenn man als Mediziner neben der Patientenversorgung auch noch aufwendige Dokumentationen zu erledigen hat, hält das in vielen Fällen nur unnötig auf. Für eine längere qualitative Beratung der Eltern bleibt dann weniger Zeit. Insgesamt finde ich: Ein bisschen mehr "Out oft the box"-Denken würde uns bei der Versorgung der Geflüchteten viel Stress ersparen.

Viele Helfer sind inzwischen auch an ihre Grenzen geraten. Wie erleben Sie die Situation - erst recht, wenn die Geflüchteten seelische Belastungen mitbringen?

Es gibt Familien, in denen manche Mitglieder manifeste psychische Probleme haben. Da ist es verständlich, dass Ehrenamtliche an ihre Grenzen geraten. Woher sollen sie auch wissen, wie man mit Menschen mit schweren psychischen und kulturellen Problemen umgeht? In solchen Situationen werden die Helfer oft alleingelassen. Wenn die Politik sagt, die Ehrenamtlichen seien eine wichtige Säule unseres Sozialstaats, dann wäre es hilfreich, mehr für kreative Angebote in der Fortbildung für ehrenamtlich Engagierte zu werben. Denn wenn es zu wenig wertschätzende und professionelle Unterstützung gibt, ist klar, dass die Freiwilligen irgendwann nicht mehr können und demotiviert aufgeben. Dabei ergänzen gerade die Ehrenamtlichen die Defizite in unserem Gesundheits- und Sozialsystem und sparen dem Staat so viel Stress und Geld.

Was ließe sich denn noch tun, um die Ehrenamtlichen im Umgang mit psychisch erkrankten Menschen zu entlasten?

Der kollegiale Austausch fehlt meist. Oft ist es ja so, dass verschiedene Stellen zusammenarbeiten, zum Beispiel Behörden, Pädagogen und ich. Da müssen wir noch lernen, besser miteinander zusammenzuarbeiten und uns auszutauschen. Meist sind auch noch Sprach- und Kulturmittler im Einsatz. Diese können dolmetschen und kennen aufgrund ihres persönlichen Hintergrunds mögliche Spannungsfelder zwischen den Kulturen und können in diesem Fall die Sensibilität auf beiden Seiten schärfen, Vertrauen aufbauen und somit Missverständnissen vorbeugen. Davon gibt es aber leider oft viel zu wenige. Die kultursensible Beratung fehlt vielerorts, besonders in psychischen Krisensituationen, einschließlich Polizei- und Notarzteinsätzen in den Gemeinschaftsunterkünften. Für diese Fälle braucht es speziell ausgebildete und belastbare Sprach- und Kulturmittler.

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