Erinnerungskultur:Elf Schilder, 13 Schicksale

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Starnberg unterm Hakenkreuz: In der Kreisstadt wurden wie im ganzen Land Menschen von den Nazis verfolgt. (Foto: Stadtarchiv Starnberg)

Ein Projekt des Gymnasiums Starnberg erinnert an Menschen wie Nandor Lebowics: Am 6. August 1944 wurde der junge Ungar von den Nazis deportiert. Kurz nach Kriegsende starb er im Landkreis an Fleckfieber.

Von Linus Freymark, Starnberg

6. August 1944: Im Westen drängen die Alliierten die deutschen Truppen nach der erfolgreichen Landung in der Normandie immer weiter zurück, auch im Osten rückt die Rote Armee vor. Irgendwann im Laufe dieses 6. August 1944 wird Nandor Lebowics auf Transport geschickt. Bislang haben ihn die Nazis in Warschau festgehalten. Jetzt wird er von der polnischen Hauptstadt in das KZ-Außenlager Mühldorf gebracht.

Für die Wachen dort ist er nicht Nandor Lebowics, sondern nur Häftling 87 488, Nummer statt Mensch. Danach verliert sich die Spur von dem aus Ungarn stammenden Lebowics. Wahrscheinlich hat ihn die SS auf einem der Todesmärsche in Richtung Süden getrieben. Klar ist: Am 18. Mai 1945 stirbt Nandor Lebowics im Kreiskrankenhaus Starnberg an Fleckfieber. Bei seinem Tod ist er gerade einmal 20 Jahre alt.

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Um an den jungen Ungarn und die anderen Opfer des NS-Regimes zu erinnern, haben Schülerinnen und Schüler der 10. Klasse sowie der Q11 des Gymnasiums Starnberg nun ein aufwendiges Projekt vorgestellt. Ein Jahr lang haben sie die Lebensläufe von Ermordeten recherchiert, die wie Nandor Lebowics einen Bezug zu Starnberg hatten. Sie haben hier gelebt, wurden von hier aus deportiert oder sind hier gestorben. Wie viele Starnberger Bürger von den Nazis ermordet worden sind, ist unklar. "Es gibt keine gesicherten Zahlen", sagt Stadtarchivar Christian Fries. Aber dass das Terrorregime auch hier seine Opfer gefordert hat, ist durch die Forschung belegt.

Katharina Singer etwa zählt dazu: 1885 in Wien geboren, zog sie 1922 nach Starnberg und wohnte in der Leutstettener Straße 6. Am 25. November 1941 wurde sie von einem deutschen Einsatzkommando im litauischen Kaunas erschossen. Oder Olga Beiner, die zusammen mit ihrem Mann Kurt zeitweise in Starnberg lebte und deren Kinder Kurt Herbert Oswald und Ilse Annemarie Gerd beide in Starnberg geboren worden sind. Auch Olga Beiner wurde am 25.November 1941 in Kaunas ermordet. Ihren Mann Kurt töteten die Nazis bereits ein Jahr zuvor im KZ Sachsenhausen. Oder Erna Goldstein aus Aachen, deren Eltern früh starben und die später in die Starnberger Villa Thiem in der Nähe der Klinik zog. Sie wurde in Auschwitz ermordet.

Stolz auf ihr Projekt: Ein Jahr lang haben die Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Lebensläufe von Opfern des NS-Regimes recherchiert. (Foto: Arlet Ulfers)
Die weißen Schilder der Schüler hängen nun unterhalb der regulären Straßenschilder. (Foto: Arlet Ulfers)
Darauf wird der Verfolgten und Ermordeten gedacht. (Foto: Arlet Ulfers)

Insgesamt 13 solcher Lebensläufe haben die Schüler auf der Homepage des Stadtarchivs zusammengetragen. Und damit die Erinnerung nicht nur im Netz fortlebt, sondern auch im Starnberger Stadtbild sichtbar wird, haben die Schüler Schilder entworfen, auf denen die Namen der Opfer stehen und die nun unter den Straßennamen prangen. "In Gedenken an Nandor Lebowics und Manik Nutgewitsch, die der Judenverfolgung während der NS-Zeit zum Opfer fielen", steht etwa in der Rheinlandstraße. Unter anderem auch im Almeidaweg sowie der Jahnstraße und der Kaiser-Wilhelm-Straße finden sich die Schilder, die zusätzlich mit einem QR-Code versehen sind. Scannt man diesen, gelangt man auf die Website des Stadtarchivs und kann dort das Leben jener Menschen nachlesen, die einst in Starnberg gelebt haben und dem NS-Terror zum Opfer fielen. Elf Schilder, 13 Schicksale.

Wie wichtig solche Erinnerungsorte dafür sind, dass sich historische Ereignisse in das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft einbrennen, hat der französische Historiker Pierre Nora um 1980 in seinem theoretischen Konzept der "lieux de mémoire" (zu Deutsch: Erinnerungsorte) festgehalten. Darunter versteht Nora sämtliche Formen, durch die Erinnerung manifestiert wird. Es muss sich also nicht zwingend um Orte im physischen Sinne handeln, vielmehr fallen neben Denkmälern oder Kultureinrichtungen wie Museen auch Feiertage oder Rituale darunter. Physische Erinnerungsorte wie Straßennamen und -schilder haben gegenüber Gedenktagen aber einen klaren Vorteil: Sie lassen sich auch auf kommunaler Ebene relativ leicht umsetzen und stechen zudem beim Rundgang durch die Stadt ins Auge.

Die Sterbeurkunde von Nandor Lebowics. Am 18. Mai 1945 starb der junge Ungar im Krankenhaus in Starnberg. (Foto: Stadtarchiv Starnberg)

Auch deshalb bekommen die Schüler des Starnberger Gymnasiums für ihr Projekt Lob von allen Seiten. Starnbergs Dritte Bürgermeisterin Christiane Falk (SPD) etwa lobt das gesellschaftspolitische Engagement der Schüler. Denn die Beschäftigung mit der Vergangenheit sei wichtig, um Freiheit und Demokratie in der Gegenwart zu bewahren. "Die Demokratie ist kein Selbstverständnis", stellt Falk fest. Das Pflegen der Erinnerungskultur sei Voraussetzung dafür, menschenverachtende Diktaturen wie das NS-Regime nicht ein zweites Mal in Deutschland Fuß fassen zu lassen. "Jeder hat die Pflicht, das zu verhindern", appelliert sie.

Auch Stadtarchivar Christian Fries hebt die Bedeutung des Projekts hervor. "Großartige und wichtige Arbeit" hätten die Schüler geleistet erklärt er und fügt hinzu: Die Zusammenarbeit mit der jungen Generation habe auch dem Archiv viele Impulse für weitere Forschungen geliefert. Denn trotz der aufwendigen Recherchen gibt es noch immer Lücken in so manchem Lebenslauf. Zudem dürfte es in Starnberg weitere Opfer des NS-Regimes geben, deren Geschichten eine Rekonstruktion verdient haben. Dieser Gedanke habe auch die Schüler während ihres Projekts angetrieben, erzählt die Zehntklässlerin Caroline Schuster und zitiert den Holocaust-Überlebenden und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel: "Die Toten zu vergessen, würde bedeuten, sie ein zweites Mal umzubringen." Durch das Projekt aber haben die Schüler nun ihren Beitrag dazu geleistet, damit die Schicksale von Nandor Lebowics und der anderen Opfer des NS-Regimes einen Platz im kollektiven Gedächtnis der Starnberger Stadtgesellschaft bekommen.

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