Erinnerung an den 9. November 1923:Was sind schon 100 Jahre?

Lesezeit: 4 min

Alljährliche Erinnerung an damals: Rainer Hange bei einer Gedenkveranstaltung am 9. November 2021 auf dem Starnberger Kirchplatz. (Foto: Arlet Ulfers)

Zum 100. Jahrestag des Hitlerputsches erinnert Rainer Hange mit dem "Starnberger Dialog" an die Geschehnisse von damals. Der 81-Jährige setzt sich sehr für die lokale Erinnerungskultur ein - und blickt mit Sorge auf die aktuellen politischen Entwicklungen.

Von Linus Freymark, Starnberg

9. November 1923, München ist in Aufruhr: Am Abend zuvor hat Adolf Hitler im Bürgerbräukeller die "nationale Revolution" ausgerufen, in einem Flugblatt erklärten die Nationalsozialisten die Absetzung der "Regierung der Novemberverbrecher". Werden die Putschisten mit ihrer Revolte Erfolg haben? Würden die bayerische und die Reichsregierung tatsächlich gestürzt werden?

Als die Putschisten bei ihrem "Marsch auf die Feldherrnhalle" auf die bayerische Landespolizei treffen, kommt es zur bewaffneten Auseinandersetzung. Schüsse fallen, am Ende sind 20 Menschen tot. Der Putsch ist abgewehrt - anders als der faschistische Aufstand in Italien, durch den sich Benito Mussolini ein Jahr zuvor an die Macht gebracht hatte und der den Nationalsozialisten als Vorbild diente. Hitlers NSDAP wird verboten und der Anführer 1924 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, die er aber nur zu einem Bruchteil absitzen muss.

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Hitlers Putsch ist zunächst gescheitert. Und dennoch sind die Ereignisse aus dem November 1923 einer der Grundsteine für die Machtergreifung der Nationalsozialisten zehn Jahre später. Wie sorgt man dafür, dass die Geschehnisse von damals sowie die gesamte NS-Zeit nicht in Vergessenheit geraten? Denn neben den Gedenkveranstaltungen von nationalem Interesse lebt die Erinnerungskultur auch von den vielen kleineren Initiativen und Veranstaltungen, die auf lokaler Ebene dafür sorgen, dass historische Ereignisse ihren Platz im kollektiven Gedächtnis finden.

Der französische Historiker Pierre Nora hat um 1980 in seinem Konzept der "lieux de mémoire" die Bedeutung von Erinnerungsorten beschrieben: Demnach fallen darunter sämtliche Formen, durch die Erinnerung manifestiert wird. Es muss sich also nicht zwingend um Orte im physischen Sinne handeln, neben Denkmälern oder Kultureinrichtungen kann es sich dabei auch um Rituale oder Gedenktage handeln. Einzige Voraussetzung dafür sei ein "materielle[r], funktionale[r] oder symbolische[r] Wert", schreibt Nora. Und den hat der 9. November allemal für die deutsche Historie - und damit auch für die Gegenwart. Die Ausrufung der Republik 1918, die Reichspogromnacht 1938, der Mauerfall 1989 und eben die Niederschlagung von Hitlers Putschversuch - all diese Ereignisse fallen auf dieses Datum.

Auch in Starnberg, der Stadt, in der ein Zahnarzt einst die Hakenkreuzflagge als Symbol für das NS-Regime ersann, wird es am 9. November anlässlich des 100. Jahrestags von Hitlers Putschversuch Veranstaltungen geben. Einer, der sich in der Kreisstadt sehr für das Fortleben des Gedenkens engagiert, ist Rainer Hange. Der 81-Jährige hat für seinen Einsatz für die Demokratie die Bürgermedaille der Stadt Starnberg bekommen, 2013 ist er vom damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck empfangen worden.

Hange ist Mitglied im Verein "Gegen Vergessen - für Demokratie" sowie beim "Starnberger Dialog", der sich für eine lebendige Erinnerungskultur und ein friedliches Zusammenleben der Gesellschaft einsetzt. Jedes Jahr im April organisiert Hange Gedenkveranstaltungen, die an die Todesmärsche aus dem Konzentrationslager Dachau erinnern. Denn die Gefangenen wurden unter anderem über Gauting und Starnberg getrieben.

Landespolizisten auf Pferden und mit Spießen bewaffnet räumen den Odeonsplatz nach der Vertreibung der Putschisten. (Foto: SZ Photo)

An diesem Donnerstag nun soll auf dem Kirchplatz an den Hitlerputsch und die Reichspogromnacht erinnert werden. Die Schülerinnen und Schüler des Starnberger Gymnasiums enthüllen eine Gedenktafel, die an die hiesigen NS-Opfer erinnert. "Die Toten zu vergessen, würde bedeuten, sie ein zweites Mal umzubringen", steht darauf, ein Zitat des Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel. Zudem gibt es eine Diskussionsrunde, an der unter anderem Bürgermeister Patrick Janik und die Direktorin der Tutzinger Akademie für Politische Bildung, Ursula Münch, über die Zukunft der Demokratie debattieren werden.

Denn gerade in diesen Zeiten, in denen mit der AfD eine rechtspopulistische Partei in den Parlamenten sitzt und der Antisemitismus immer salonfähiger wird, sei es wichtig, zurückzublicken und aus der Historie Schlüsse für die Zukunft zu ziehen, findet Hange. "Die Zivilgesellschaft ist hierbei besonders wichtig", erklärt er. "Wenn wir nicht aufstehen, wer macht es dann?"

Hinzu kommt, dass die Erinnerungskultur an die NS-Zeit vor einem Wendepunkt steht: Es gibt kaum noch Überlebende, weshalb neue Formen des Gedenkens gefunden werden müssen. "Wenn die Zeitzeugen nicht mehr da sind, wird es schwierig", sagt Hange. Auch deshalb ist er froh, dass die Gymnasiasten ein so großes Interesse daran gezeigt haben, die Erinnerung hochzuhalten. Denn nur, wenn auch die nächsten Generationen sich für deren Fortleben einsetzen, könne das deutsche "Nie wieder!" -Versprechen bestehen, glaubt Hange.

"Wenn wir nicht aufstehen, wer macht es dann?"

Bleibt die Frage: Warum setzt sich einer wie Hange so sehr für die Erinnerungskultur ein? Es ist schließlich sehr aufwendig, die Recherche, die Organisation, ein Haufen Arbeit ist das. "Das steckt in mir", sagt Hange - vielleicht von frühester Kindheit an. Denn der Vater hatte eine jüdische Großmutter. Verglichen mit anderen Familien hatten die Hanges zwar kaum mit Repressalien zu tun. Dennoch: Die politischen Verhältnisse von damals haben die Familie geprägt. "Wer 1938 einen Mann mit jüdischem Hintergrund geheiratet hat, muss Mut gehabt haben", sagt Hange über seine Mutter. Wegen dieser frühen Erfahrungen war Hange immer einer, der sich für eine Welt ohne Hass und Diskriminierung eingesetzt hat. "Das Aufeinander zugehen ist wichtig", sagt Hange. "Wir müssen uns in Harmonie üben." Und das, ohne seine Werte und Überzeugungen zu verleugnen.

Seit mehr als 50 Jahren ist Hange FDP-Mitglied, aber anders als so mancher seiner Parteikollegen hatte Hange nicht nur das Wirtschaftswachstum im Blick. "Mich hat auch das Soziale immer sehr interessiert", sagt er. Und über allem stand das Credo: Wir dürfen nicht vergessen!

Dafür hat Hange in den vergangenen Jahren eine Menge prominenter Redner nach Starnberg geholt: Der Holocaust-Überlebende Abba Naor etwa ist seiner Einladung gefolgt, zur ehemaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die sich heute als Antisemitismusbeauftragte von Nordrhein-Westfalen engagiert, pflegt er ein freundschaftliches Verhältnis. Solche Beziehungen helfen, Öffentlichkeit herzustellen - und so die Erinnerung am Leben zu halten.

Die Gedenkveranstaltung auf dem Starnberger Kirchplatz startet am Donnerstag, 9. November, um 17 Uhr. Geplant sind Reden und Musik von Kantor Nikola David und Stefan Komarek sowie die Enthüllung der Gedenktafel des Starnberger Gymnasiums. Um 18.30 Uhr beginnt dann die Podiumsdiskussion zur Zukunft der Demokratie in der Großen Schlossberghalle.

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