Kinderbetreuung:Riesenaufstand im Zwergenglück

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Die Eltern der "Zwergenglück"-Krippe haben ihre Verträge mit dem BRK-Kreisverband annulliert. (Foto: Georgine Treybal)

In der Starnberger BRK-Krippe haben fast alle Mitarbeiter gekündigt. Die noch bestehenden Betreuungsverträge für ihre Kinder haben die Eltern annulliert. Sie werfen dem Träger Missmanagement vor.

Von Viktoria Spinrad, Starnberg

Am 8. November war es mal wieder soweit. In der Früh klingelte das Handy von Rebecca Albat. Mit dem Anruf kamen schlechte Nachrichten. Eine Erzieherin habe einen positiven Schnelltest, tippt Albat kurz darauf in eine Whatsapp-Gruppe namens "BRK Krippe Eltern 2022/23". Dazu schreibt sie einen Appell an die anderen. "Wer kann bitte noch zu Hause bleiben oder noch warten mit dem Bringen..!" "Lisi bleibt zu Hause", schreibt eine Mutter, "der Lauren bleibt daheim", eine andere.

Eines der 21 Kinder in der Unterkunft ist der Sohn von Rebecca Albat. Sie ist Mutter, keine Mitarbeiterin in der Krippe. Trotzdem hatte sie im Monat vor dem Notruf schon einmal ausgeholfen - Brezen für die Kinder besorgt, Essen verteilt, mit den Kindern gefrühstückt, Wäsche aufgehängt, Geschirr gewaschen, die Kinder mit in den Garten begleitet und die Stellung gehalten, damit eine Betreuerin mal aufs Klo gehen kann. Sie wusste ja, dass der Laden sonst möglicherweise ganz dichtgemacht wird. Sie dachte sich: "Dann wäre ja auch keinem Elternteil mehr geholfen."

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Das mit dem Helfen hat sich mittlerweile erledigt. Für die BRK-Kindereinrichtung in Starnberg hat der Sommer mit einem Paukenschlag begonnen. Mit vier von fünf Mitarbeiterinnen hat im Verlauf des Jahres fast die gesamte Belegschaft gekündigt - genau wie alle Eltern, deren Kinder nach dem Sommer noch im "Zwergenglück" verblieben wären. Sie haben einen Antrag beim Jugendamt gestellt, dem BRK die Trägerschaft der Einrichtung zu entziehen.

Dass eine Elternschaft geschlossen kündige, habe sie noch nie gehört, sagt Doris Rauscher (SPD), Vorsitzende des Sozialausschusses im Landtag. Und auch im Starnberger Landratsamt, wo die chronische Unterbesetzung in den Kinderbetreuungseinrichtungen regelmäßig Thema ist, zeigt man sich perplex. Die vom Elternbeirat beschriebene Form der Auseinandersetzung zwischen Eltern und Träger, sagt ein Sprecher, "ist uns so noch nicht vorgekommen". Und so illustriert das Beispiel der BRK-Einrichtung nicht nur den enormen Druck auf das Kinderbetreuungssystem, sondern auch eine Schmerzgrenze, die hier ausgereizt scheint.

Doris Rauscher, die Vorsitzende des Sozialausschusses im Landtag, hatte von einem Fall wie dem in Starnberg zuvor noch nie gehört. (Foto: Peter Hinz-Rosin)
Am Klingelschild stehen noch die Namen der Krippengruppen. (Foto: Georgine Treybal)
Mit einem Plakat an der Hauswand wirbt der Kreisverband um Personal. (Foto: Georgine Treybal)

Die Krippe des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) liegt etwas versteckt im Starnberger Norden, im Wohngebiet zwischen dem Gelände des TSV 1880 und dem Leutstettener Moos. "AWO Kinderkrippe", steht noch auf dem Briefkasten. Auf dem Klingelschild prangen noch die Namen der früheren Gruppen, oben die "Sonnenblumen", unten die "Gänseblümchen". Eine Einrichtung für 22 Kinder zwischen einem und drei Jahren.

Ein Recruiting-Banner des BRK an der Hauswand zeigt an, wer hier seit einem Jahr der Träger ist. "Du willst was richtig Cooles machen?", steht darauf. Laut übereinstimmender Schilderungen der Eltern ist es seit der Übernahme vor einem Jahr in der Gautinger Straße 32 alles andere als cool gelaufen. Die Liste der Vorwürfe ist lang. Es geht um chronische Unterbesetzung, Eltern als Lückenfüller und fehlende Kommunikation. "So etwas habe ich noch nie erlebt", sagt Roman Müllegger, Interimsvorsitzender des Elternbeirats. "Das Kindeswohl stand hier nie im Vordergrund", sagt Rebecca Albat. Die Mitarbeiter wollten sich zu der Situation in der Krippe nicht äußern.

Rebecca Albat und Roman Müllegger beklagen die Betreuungssituation in der BRK-Krippe "Zwergenglück". (Foto: Georgine Treybal)
Jan Lang ist Kreis-Geschäftsführer des Bayerischen Roten Kreuzes in Starnberg. Er wollte sich zu den Vorwürfen nicht äußern. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Auf die Vorwürfe reagiert das BRK gegenüber der SZ nicht. Auf einen Fragenkatalog zu den Vorwürfen und der Bitte um ein persönliches Gespräch kommt keine Antwort. Dass man die Dinge hier anders sieht, geht lediglich aus einem Brief vom 8. August an den Elternbeirat hervor, der der SZ vorliegt. Hier ist unter anderem von einer generell "sehr angespannten" Personalsituation und "einer sehr hohen Auslastung der Führungskräfte" die Rede. Man versuche "ernsthaft, intensiv und kontinuierlich", die Situation "in allen Belangen in den Normbereich zu führen".

Der Kreisverband ist mit seinen mehr als 20 Kinderbetreuungseinrichtungen der Platzhirsch im Landkreis. Das Erstaunen war dennoch teils groß, als der Träger im vergangenen Jahr die Starnberger Einrichtung von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) übernahm. Schließlich hatte Kreisgeschäftsführer Jan Lang erst kurz zuvor im Gautinger Gemeinderat über die "beschissene" Personalsituation in den Kindertageseinrichtungen geschimpft und beteuert, dass das BRK keine weiteren Kitas plane.

Wie vor einem Tribunal musste er sich damals im März 2022 rechtfertigen. Anlass war, dass die Eltern einer Einrichtung in Unterbrunn das Rote Kreuz als Träger loswerden wollten. Wie beim Starnberger "Zwergenglück" ging es um die instabile Personalsituation, unter anderem die Kündigungen mehrerer Angestellter. Lang wiederum sprach von "Kinderbetreuung am Limit". Die Situation soll das Problem gewesen sein, nicht das BRK.

Auch in einer Gautinger Kita gab es Missstände

Dennoch übernahm der BRK-Kreisverband wenige Monate später die Starnberger Einrichtung von der AWO und damit auch mehrere langjährige Mitarbeiterinnen. In der Einrichtung habe es "viele Missstände" gegeben, rechtfertigt sich Lang auch hier in dem Brief an den Elternbeirat. Welche das gewesen sein sollen, schreibt er nicht. Der Brief erreichte die Eltern Anfang dieser Woche nach monatelangen Nachfragen.

Kurz nach der Übernahme fällt die Leitung aus. Eine Interimsleiterin soll für Stabilität sorgen. Doch wie die Eltern schildern, herrscht über Monate der Ausnahmezustand. Der ist freilich kein BRK-Spezifikum. Landauf, landab ringen Träger um Personal und graben sich dieses gegenseitig mit finanziellen Zuckerln ab. Zwar gebe es bayernweit so viel Betreuungspersonal wie noch nie, sagt die Feldafinger Landtagsabgeordnete Ute Eiling-Hütig (CSU). "Aber der Bedarf ist exponentiell gestiegen."

Nachdem eine Hauswirtschaftskraft wegbricht, spitzt sich die Situation in der Starnberger Krippe zu. Eigentlich sollten in den kleinen Gruppen mit zehn und elf Kindern zwei Betreuerinnen sein. Denn eine Betreuungskraft darf nicht mehr als 8,54 Kinder betreuen. So sieht es der Personalschlüssel des Freistaats vor. Weil mehrere Mitarbeiter abspringen, sind laut der Eltern die Betreuerinnen von September bis März jeweils alleine in den Gruppen. "Wahnsinn", nennt das Doris Rauscher (SPD), Vorsitzende des Sozialausschusses im Landtag und selber gelernte Erzieherin. "Das kann nicht funktionieren."

An manchen Tagen gibt es nur eine Notbetreuung

42 Tage dürfen ausgefallene Betreuer als solche im System bleiben, danach muss der Betreuungsschlüssel wieder stimmen. Es ist ein Entgegenkommen der Politik, um ständige Schließungen zu verhindern und auch, dass die Träger plötzlich ohne öffentliche Fördergelder dastehen. Wie es das BRK schaffte, sich über ein halbes Jahr mit zu wenig Personal durch das System zu hangeln, bleibt unklar. Ohne Konsequenzen hingegen bleibt auch die Personalsituation in der Kita nicht. Wie vielerorts werden die Betreuungszeiten gekürzt. An manchen Tagen gibt es nur noch eine Notbetreuung.

Dutzende offene Stellen sind derzeit im Landkreis für Erzieherinnen ausgeschrieben, es fehlen 270 Krippenplätze und 230 Kita-Plätze. Bayernweit sind es laut einer Berechnung der Bertelsmann-Stiftung fast 62 000 Kita-Plätze und 14 500 Erzieher. Im Alltag ergibt sich daraus ein Dilemma. Denn die Kommunen sind unter politischem Druck, Plätze bereitzustellen. Im Ergebnis haben viele Betreuerinnen das Gefühl, dass sie Kinder eher verwahren als betreuen. Durch Tarifsteigerungen und höhere Energiepreise hat sich zugleich der Kostendruck erhöht, vor allem auf kleine Einrichtungen wie das "Zwergenglück".

In dieser Gemengelage ringen die Träger um Betreuer. Sie locken - wie auch das BRK - mit Willkommensprämien, Zuschüssen, Weiterbildungsmöglichkeiten. Auch die Starnberger Eltern springen beim Recruiting ein, zirkulieren die freien Stellen im Internet. Gleichzeitig verfestigt sich unter ihnen der Eindruck, dass es vielen Erzieherinnen schlicht nicht attraktiv genug ist, für das BRK zu arbeiten. "Das Investment dort ist gleich null", sagt Roman Müllegger. "Mit der BRK-Haltung zum Kindeswohl kommt man nicht weit", sagt Rebecca Albat.

Immer wieder springen Eltern ein, die sich per Whatsapp organisieren

Wo es geht, springen die Eltern ein. "Hallo zusammen", schreibt eine Mutter am Nachmittag des 26. Februar in die Whatsapp-Gruppe. Eine der Betreuerinnen falle morgen leider aus. "Könnte jemand spontan von 10:30 Uhr bis ca. 12:00 Uhr einspringen?" Eine andere Mutter meldet sich, sie könne kommen. Eine rechtliche Gratwanderung, schließlich sind Mütter kein pädagogisch ausgebildetes Personal. Dass sie stundenweise einspringen, wird dennoch toleriert: Ansonsten droht schließlich die Schließung - und das Ende mancher Frauenkarrieren.

Es ist ein Einsatz, für den sich der Starnberger BRK-Chef Lang in seinem Brief gönnerhaft bei den Eltern bedankt. Eine Schulung, die die Eltern gefordert hatten, werde "erwogen". Zugleich betont er, die Unterstützung habe in der Vergangenheit "primär in hauswirtschaftlichen Tätigkeiten" stattgefunden. Stimmt nicht, sagen viele Mütter - sie seien auch immer wieder als Betreuerinnen eingesprungen. Heute, sagt Albat, würde sie das so nicht mehr machen. "Die Einrichtung hätte dicht gemacht werden müssen."

Nach dem Sommer will der BRK-Kreisverband die Türen zum "Zwergerlglück" wieder aufsperren. Das geht aus dem Schreiben des Kreisgeschäftsführers hervor. Es wäre ein Anfang von null an, mit neuen Kindern, neuen Eltern, neuem Personal. "Als erfahrener KiTa-Träger" hoffe man, schreibt Lang, die Situation Schritt für Schritt in den Griff zu bekommen. Eine Fachkraft habe man schon gefunden, zwei Stellen seien ausgeschrieben.

Die Eltern stellen einen Antrag auf Entzug der Trägerschaft

Die ausgestiegenen Eltern wollen einen Neustart verhindern. Sie haben einen Antrag bei der Aufsichtsbehörde im Landratsamt gestellt auf Entzug der Trägerschaft - den ersten, den die Behörde je erreicht hat. Die "vielen leeren Versprechungen" des BRK Starnberg seien für alle Beteiligten in der Einrichtung in diesem Jahr "zu einer Zerreißprobe" geworden, monieren die Eltern. Man sehe keine Chance, dass der Anstellungsschlüssel jemals "den vom BRK Starnberg suggerierten Öffnungszeiten, einem kindgerechten Tagesablauf, geschweige denn einer verlässlichen und qualitativen Kinderbetreuungssituation" entsprechen werde.

Zum Entzug der Betriebserlaubnis hat man im Landratsamt allerdings bisher keinen Anhaltspunkt gesehen. Konkrete Angaben zu "Situationen einer potentiellen Kindeswohlgefährdung aufgrund von Personalmangel" konnten bisher nicht genannt werden, so ein Sprecher. Klar ist, ein etwaiger Entzug wäre ein Paukenschlag, und dazu ein heikler: Schließlich würde es sich der Landkreis potenziell mit seinem größten Träger verscherzen.

Derweil hat der BRK-Kreisverband ein Qualifizierungsprogramm für Quereinsteiger aufgelegt, die "Henry-Dunant-Akademie", benannt nach dem Gründer des Roten Kreuzes. "Das soll helfen, die Not mittelfristig zu lindern", schreibt Lang. In Zukunft soll es dort auch Qualifizierungskurse für Betreuerinnen geben. Eine Qualifizierung zur Kita-Assistenzkraft beispielsweise kostet 2400 Euro. Es sind Weiterbildungen, wie sie andere Träger dem potenziellem oder bestehenden Mitarbeiterinnen subventionieren, um die Lücken zu schließen.

Für den Neustart sucht das BRK Personal - auch Großeltern

Im Gautinger Ortsteil Unterbrunn hat man das Kapitel BRK derweil geschlossen. Die Gemeinde hat die Trägerschaft auf Druck der Eltern neu vergeben. Nach dem Sommer wird der Kindergarten unter einer privaten Initiative starten. Dahinter stehen eine Erzieherin und eine Kauffrau, das Personal haben sie bereits beisammen.

In Starnberg wirbt Lang in seinem Brief für das neue Krippenjahr im "Zwergenglück" derweil bereits um Unterstützung von außen. Er schreibt: "Auch über eine vorübergehende ergänzende Unterstützung ehrenamtlicher bzw. geringfügig beschäftigter Großeltern würden wir uns sehr freuen."

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