Seltene Krankheiten:Ein neues Leben mit 35

Lesezeit: 3 min

"Es freut uns, dass wir das Beste erreicht haben": Mariam Khodari mit den Betreuern (v.l.) Georg Gradl, Christopher Böddeker und Hans-Günther Machens. (Foto: Arlet Ulfers)

Mariam Khodari hat das extrem seltene Multiple-Synostosen-Syndrom. Bei ihr waren Ober- und Unterarm von Geburt an zusammengewachsen. Am Klinikum Starnberg wurde die junge Frau kürzlich erfolgreich operiert. Und plötzlich kann sie viele Dinge, die davor undenkbar waren.

Von Sylvia Böhm-Haimerl, Starnberg

Für Mariam Khodari hat der Spruch "von der Hand in den Mund leben" eine ganz besondere Bedeutung. Denn bei der 35-jährigen Syrerin waren Ober- und Unterarm von Geburt an zusammengewachsen. Sie konnte ihre Arme nicht anwinkeln. Khodari leidet unter dem extrem seltenen Multiplen-Synostosen-Syndrom, einer Erbkrankheit, die nach Angaben von Professor Hans-Günther Machens, dem Direktor der Klinik für Plastische Chirurgie und Handchirurgie am Klinikum rechts der Isar, weltweit höchstens 40 Mal vorkommt.

Die junge Frau kam nicht mit der Hand zu ihrem Mund. Das heißt, sie konnte nicht mit Messer und Gabel essen und auch keine Knöpfe annähen. Auch ihre Mutter, die unter der gleichen Erbkrankheit leidet wie sie, konnte sie nur unter sehr schwierigen Bedingungen pflegen. Für Außenstehende ist es unvorstellbar, wie der Alltag bei der syrischen Familie ablief.

Newsletter abonnieren
:München heute

Neues aus München, Freizeit-Tipps und alles, was die Stadt bewegt im kostenlosen Newsletter - von Sonntag bis Freitag. Kostenlos anmelden.

Irgendwann wollte sich Khodari ihre Arme entfernen und eine Prothese einsetzen lassen. Im Kriegsgebiet Syrien habe sie "unter widrigsten Umständen" in Damaskus recherchiert, wie man zwei neue Arme bekommen kann, so Machens. Sie habe sich dann an ihn gewandt und nicht mehr lockergelassen. "Wie verzweifelt muss ein Mensch sein, dass er sich beide Arme transplantieren lassen will," fragt sich Professor Georg Gradl, Chefarzt für Orthopädie und Unfallchirurgie am Klinikum Starnberg, heute noch. Er hat Khodari operiert und die Details zusammen mit Machens nun erläutert.

Im Vorfeld der Operation sei nicht absehbar gewesen, ob die OP gelingen könne, erklärt Gradl. Wie er ausführte, hat es mehrere Fragen gegeben, die nicht beantwortet werden konnten - beispielsweise, ob ein Mensch, der 35 Jahre lang kein Gelenk hatte, die neue Prothese auch bewegen könne. Die Muskeln werden bekanntlich vom Gehirn gesteuert. Nach Angaben des Operateurs war es fraglich, ob ein Muskel, der bislang nie vom Kopf angesteuert worden war, es schaffen kann, sich überhaupt zu bewegen.

Der schönste Moment für Mariam Khodari war es, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihr Gesicht berühren konnte. (Foto: Arlet Ulfers)

Zudem musste geklärt werden, ob es Alternativen für die Befestigung der Prothese gibt, denn bei Khodari waren die Unterarmknochen verwachsen und deformiert. Für das Klinikum rechts der Isar waren das zu viele Unsicherheiten, das Krankenhaus lehnte die komplizierte Operation ab. Machens hat daher seinen Starnberger Kollegen um Hilfe gebeten, da dieser als "Experte für schwierige Fälle" gilt. Gradl ist das Risiko eingegangen und hat Khodari während einer mehr als fünfstündigen Operation ein künstliches Ellbogengelenk eingesetzt - mit Erfolg, wie sich herausstellte.

Den Arm abbiegen zu können, ist für die meisten Menschen so selbstverständlich, dass sie wahrscheinlich nicht einen einzigen Gedanken daran verschwenden würden. Für die 35-jährige Syrerin indes ist diese Bewegung einzigartig. Als sie ihren Unterarm stolz hin und herbewegt, hat sie ein charmantes Lächeln im Gesicht, das geradezu von innen heraus leuchtet. Machens, der die Patientin persönlich betreut hat, freut sich mit ihr. Der schönste Moment für sie sei gewesen, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihr Gesicht berühren konnte, lässt Khodari über Machens ausrichten.

Ein "Experte für schwierige Fälle": Georg Gradl, Chefarzt für Orthopädie und Unfallchirurgie am Klinikum Starnberg. (Foto: Arlet Ulfers)

Schon zwei Tage nach der Operation konnte Khodari erste kleine Bewegungen machen. Sie hat gleich mit der täglichen Physiotherapie bei Christopher Böddeker begonnen. "Die Freude, als ich ihr aus therapeutischen Gründen ein Eis gab und sie es selbst essen konnte, war riesengroß", erklärt Böddeker warum es für ihn "eine Herzensangelegenheit" gewesen sei, die Patientin kostenlos jeden Abend über mehrere Wochen hinweg zu behandeln.

Der Weg bis zur Operation Anfang Juni in Starnberg war allerdings sehr steinig. Das Hauptproblem war nicht die Finanzierung - die Kosten wurden laut Machens zu zwei Drittel von einem befreundeten Gönner aus Dubai übernommen und zu einem Drittel von der European Health GmbH. Aber es war Machens zufolge äußerst schwierig, ein medizinisches Visum zu bekommen. Die Vorbehalte der Deutschen Botschaft, dass das Visum missbraucht werden könnte, um Asyl zu beantragen, seien sehr groß gewesen, sagte er.

Nach seinen Angaben wurde er 2017 erstmals von Khodari kontaktiert. Durch Vermittlung des Hauptsponsors sei es 2019 zu einem ersten Treffen in Dubai gekommen. Er habe sie dort in einer Klinik untersucht. Auch wenn die beiden Ärzte dafür bürgen mussten, dass Khodari wieder in ihre Heimat zurückgeht und sie nicht wissen, wie es dort mit ihrer Patientin weitergeht, zieht Gradl nach der gelungenen Operation ein positives Fazit: "Es freut uns, dass wir das Beste erreicht haben."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusKlimaproteste an Schulen
:"Protestiere und nimm in Kauf, dass du einen Verweis kriegst"

In 38 Jahren am Landschulheim Kempfenhausen hat Elmar Beyersdörfer viel erlebt. Nun geht er als Schulleiter in den Ruhestand - und schaut auf eine Generation zurück, die so umweltbewusst ist wie keine zuvor.

Interview von Ella Adam

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: