Erinnerungen an den Holocaust:"Man soll nicht auf das Leben verzichten"

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Einer der letzten Überlebenden des Holocaust: Abba Naor beim Zeitzeugengespräch im Gautinger Otto-von-Taube-Gymnasium. (Foto: Arlet Ulfers)

Angesichts der aktuell bedrückenden Lage in Israel und Gaza hat das Otto-von-Taube-Gymnasium in Gauting zu einem Zeitzeugengespräch mit Abba Naor eingeladen, einem der letzten Überlebenden des Holocaust.

Von Yara van Kempen, Gauting

Ein 95-Jähriger sitzt an einem langen Tisch in einer Aula, die nach ihm benannt wurde, und Hunderte Ohren lauschen seinen Worten: Abba Naor, als Shoah-Überlebender für viele eine Figur der Hoffnung, erzählt angesichts der aktuellen Lage in Nahost erneut seine Geschichte. Diesmal richtet er seine Worte nicht allein an Schülerinnen und Schüler, sondern vor allem an Eltern und Bürger.

Weltgeschehnisse treffen meist diejenigen am härtesten, die einen persönlichen Bezug haben: Der Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober hat die Schüler und Lehrer des Otto-von-Taube-Gymnasiums in Gauting besonders stark berührt. Seit 2005 ist die Schule über ihre Partnerschule und ein damit einhergehendes Austauschprogramm eng mit Israel verbunden: Die "Givat Brenner Regional High School" liegt südlich von Tel Aviv und betrauert seit dem schrecklichen Hamas-Terrorwochenende den Tod von zehn Schülerinnen und Schülern.

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"Das hat uns alle sehr erschüttert", sagt Markus Greif, Leiter des Israel-Austauschs. Für Ende Oktober war eine Exkursion mit mehreren Schülern und Lehrern nach Israel geplant. "Ich hatte die Flugtickets schon auf dem Schreibtisch liegen", sagt Greif. Dann kam am Morgen des 7. Oktober die Schreckensnachricht. "Ich habe sofort zum Telefon gegriffen. Ich musste wissen, ob es unseren Freunden gut geht."

Vor etwa drei Wochen veranstaltete das Otto-von-Taube-Gymnasium am Totensonntag eine Gedenkfeier für die Opfer des Angriffs der Hamas. Greif hatte ein Video von der Schulveranstaltung an den Direktor der israelischen Schule geschickt. Die Antwort folgte mit einer sehr gerührten Rückmeldung, der Kollege wolle das Video mit der israelischen Bevölkerung teilen. Es gehe darum, "auf andere zuzugehen und Verbindungen zu schaffen", sagt Greif. Mit dem Video wollten die Gautinger ihre Solidarität bekunden und emotionale Unterstützung bieten.

Greif ist es wichtig, "Position zu beziehen". Deshalb gibt es neben den Schilderungen von Naor auch eine Fotoausstellung zu sehen: "Humans of the Holocaust" vermittelt berührende Ansichten und Eindrücke des israelischen Künstlers und Fotografen Erez Kaganovitz. Zu sehen ist unter anderem Dugo Litner, ein Überlebender, der auf seinem Bild einen großen gelb-goldenen Luftballon in Form des Judensterns umarmt. Oder Rita Berkowitz: Auf ihrem Porträt lächelt sie, trägt eine Krone auf dem Kopf und auf einer Schärpe um ihren Oberkörper steht in hebräischer Schrift "Miss Holocaust Survivor". Der Fotograf scheint mit seiner Ausstellung einen neuen, leichteren, vielleicht sogar humorvollen Zugang zu einem schwierigen Thema schaffen zu wollen.

Bilder des israelischen Fotografen Erez Kaganovitz: Die Ausstellung "Humans of the Holocaust" vermittelt eine neue Sichtweise auf eine leidvolle Zeit. (Foto: Erez Kaganovitz)
"Miss Holocaust Survivor" steht in hebräischer Sprache auf der Schärpe von Rita Berkowitz. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Aula des Otto-von-Taube-Gymnasiums trägt seit März dieses Jahres den Namen von Abba Naor. Das schafft einerseits eine besondere thematische Präsenz, andererseits ist es eine Dankesgeste der Schule für sein Engagement. Es ist die erste Veranstaltung von Abba Naor in der Gautinger "Abba Naor Aula", und als er beginnt, seine Lebensgeschichte zu schildern, herrscht unter den rund 100 Zuhörern andächtige Stille.

Gauting war eine der ersten Stationen, auf der Abba Naor nach der Befreiung in Deutschland Halt machte. Der damalige Bürgermeister Ekkehard Knoblauch, 2012 zum Ehrenbürger ernannt, lud Zeitzeugen des sogenannten Dachauer Todesmarsches im April 1945 ein, um von diesen zu erfahren, was sich damals in der Region zugetragen hatte. Naor, der den Todesmarsch als 17-Jähriger überlebt hatte, war zunächst skeptisch, doch dann siegte die Neugier: In Gauting nahm er Kontakt zum Gymnasium auf und es entstand die Idee eines Austauschprogramms, um Israel und Deutschland miteinander zu verbinden. Zurück in Israel war es gar nicht so einfach, eine passende Schule zu finden, viele wollten nichts mit Deutschland zu tun haben, bis er im Jahr 2000 die heutige Partnerschule fand. "Dort standen plötzlich alle Schlange." Als dann die ersten Gautinger Schüler in Tel Aviv eintrafen, kamen Naor die Tränen, so gerührt war er angesichts des Miteinanders.

"Es waren unsere Nachbarn, die mit der Ermordung der Juden begonnen haben"

Seine Geschichte erzählt er bereits seit 30 Jahren an bayerischen Schulen. Dafür pendelt er zwischen Israel und München. Naor wurde 1928 in Kaunas geboren und wuchs mit seinen Eltern und zwei Brüdern in Litauen auf. Als er 13 Jahre alt war, holten ihn und seine Familie der Krieg ein. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 ermordeten deutsche und litauische Einsatzgruppen in nur fünf Monaten 133 346 der etwa 200 000 litauischen Juden. Naor ist einer der wenigen Überlebenden. "Es waren unsere Nachbarn, die mit der Ermordung der Juden begonnen haben", sagt Naor über die Anfänge in Litauen. Seine gesamte Familie wurde ins Getto von Kaunas deportiert.

Es folgte eine Odyssee: Naor überlebte das Getto, das Konzentrationslager Stutthof östlich von Danzig, das Dachauer Außenlager Kaufering V in Utting am Ammersee und den Todesmarsch von Dachau. Der Marsch endete in Waakirchen im Landkreis Miesbach, wo Naor von der US-Armee befreit wurde. Sein Bruder Chaim wurde mit 14 Jahren in Kaunas erschossen. Auch seine Mutter Chana und sein fünfjähriger Bruder Berale überlebten den Krieg nicht; beide wurden in Auschwitz-Birkenau ermordet. Er sah sie zum letzten Mal am 26. Juli 1944 im KZ Stutthof, als sie zum Deportationszug getrieben wurden. Seine Erzählungen über das Leben und Überleben in der Shoah untermauert er mit nur schwer erträglichen Bildern und führt so allen Anwesenden die Gräueltaten der Nazis vor Augen.

Mehr als 100 Zuhörer lauschen in der Schulaula gebannt den Ausführungen von Abba Naor. (Foto: Arlet Ulfers)

Mit seiner Erinnerungsarbeit will Naor aber auch motivieren, das Leben wertzuschätzen. "Man soll nicht auf das Leben verzichten, denn das Leben ist das schönste Geschenk", sagt Naor. "Wir sind nur Gäste auf der Welt." Nachdem er seine Geschichte erzählt hat, fragt ein Mann, wie der 95-Jährige die aktuelle Situation in Deutschland einschätze, ob Antisemitismus wieder zunehme und antisemitische Aussagen wieder salonfähig würden. Naor hat dazu eine klare Haltung, die er auch in seinem Buch "Ich sang für die SS: Mein Weg vom Ghetto zum israelischen Geheimdienst" beschrieben hat. "Der sicherste Ort für Juden in den nächsten 100 Jahren ist Deutschland", sagt Naor. Davon ist er überzeugt und schlägt den Bogen zu Olaf Scholz, der am selben Tag mit Kippa das jüdische Lichterfest Chanukka eröffnet hat. "Wir sind eins", sagt Naor - und dieses Gefühl habe ihm auch der Bundeskanzler am 7. Dezember vermittelt.

Normalerweise erzählt Naor seine Geschichte vor allem vor Schülern der neunten Klasse, diesmal aber richtet sich die Veranstaltung besonders und speziell auch an Eltern und Mitbürger. Es gehe darum, dem gesellschaftlichen - und damit auch dem familiären - Diskurs eine Basis zu geben. Markus Greif, der Leiter des Israel-Austauschs, ist sich sicher: Wer einmal Abba Naor und seine Geschichte gehört hat, kann kein Antisemit mehr werden. Eltern sollten dann in der Lage sein, ihren Kindern besonders viel darüber zu vermitteln. Greif verfolgt mit seinem Aktivismus das Ziel, dass Kinder eine eigene Haltung entwickeln - und sie dann "aufstehen, wenn Humanität gebrochen wird".

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