Mit einem Jahr Verspätung feiert am Donnerstag, 22. April, ein Film Premiere, den Max Kronawitter zum 75. Jahrestag des Todesmarsches von Dachau gedreht hat. "Als das Grauen vor die Haustür kam" heißt die Dokumentation, die zunächst in einer Kurzfassung zu sehen ist. Mehr als 10 000 Häftlinge wurden im April 1945 in den letzten Stunden der NS-Diktatur von SS-Einheiten und Bluthunden Richtung Alpen getrieben. Die Hauptroute führte über Starnberg und Wolfratshausen nach Bad Tölz und weiter nach Waakirchen, wo amerikanische Soldaten die Elendsgestalten befreiten. Kronawitter lebt in Eurasburg und realisiert seit 1988 mit seiner Produktionsfirma "Ikarus" Projekte, die ihm am Herzen liegen.
SZ: Herr Kronawitter, wie viele Menschen können heute noch aus eigenem Erleben vom Dachauer Todesmarsch erzählen?
Max Kronawitter: Wenige. Deshalb war es für mich höchste Zeit, diesen Film zu machen. Seit 15 Jahren liegt das Projekt in meiner Schublade. Zwei meiner Protagonisten sind mittlerweile gestorben, zuletzt vor fünf Monaten Moritz Sappl aus Bolzwang.
Ein Zeitzeuge aus den Reihen der Bevölkerung?
Sein Vater, der schon lange tot ist, war der einzige Mensch aus der Gegend, der bei den Dachauer Prozessen als Zeuge über den Todesmarsch aussagen musste. Tausende Häftlinge hatten in einem Waldstück südlich von Wolfratshausen gelagert, dort kam es zu einem Gemetzel. Seine Aufgabe war es, die Leichen zu beseitigen. Ich habe seinen Sohn mehrmals darauf angesprochen, weil sich diese Geschichte nahezu vor meiner Haustür abgespielt hat. Aber er wusste angeblich nichts. Bis ich ihn gebeten habe, mit mir dorthin zu fahren. Und als wir dann durch diesen Wald gegangen sind, hat er angefangen zu reden. Dass früher bei Holzarbeiten immer wieder mal ein Kochgeschirr oder ein Schuh oder eine Gasmaske zum Vorschein gekommen sei. Und dass der Papa doch ein paar Sachen erzählt habe, dass die Leichen, die er auf den Wagen hieven musste, sich wie tote Kälber angefühlt hätten.
Mit wie vielen ehemaligen Häftlingen konnten Sie sprechen?
Aktuell nur noch mit Abba Naor. Aber ich hatte ja schon vorgearbeitet. Mit Hermann Scheipers, der als Priester im KZ interniert war und mittlerweile ebenfalls verstorben ist, habe ich vor ein paar Jahren lange gesprochen. Insgesamt hatte ich Zugriff auf Interviewmaterial mit vier Menschen, die bei diesem Marsch dabei waren.
Abba Naor hat seine Geschichte schon viele Hundert Mal erzählt. Konnten Sie ihn noch mit einer Frage überraschen?
Einerseits ist es von Vorteil, mit jemandem zu sprechen, der es gewohnt ist, gefragt zu werden, für den das Reden über das Erlebte eine Art der Befreiung geworden ist. Aber man merkt, wenn eine Frage schon oft gestellt wurde. Die Antwort kommt dann sehr präzise. Mit ungewöhnlichen Fragen stößt man gerade bei alten Menschen oft an Grenzen, weil die Dinge der Erinnerung nicht mehr zugänglich sind. Und dann wieder erlebt man Momente der Überraschung.
Zum Beispiel?
In meinem Film gibt es die wunderbare Geschichte von einer Ziehharmonika, die ein entkräfteter Häftling in Reichersbeuern einem 14-Jährigen in die Hand gedrückt hat mit den Worten: Brot, gib mir Brot. Er hatte sie den ganzen langen Weg mit sich geschleppt. Und der Bursche hat ihm Brot gegeben. Über diese Geschichte habe ich mit Abba Naor gesprochen. Und er hat gesagt: Klar, Rosmarin, der die Ziehharmonika mit sich geschleppt hat, den kenne ich, seine Eltern hatten eine Wurstfabrik in Kaunas.
Sie lassen in Ihrem Film nicht nur einstige Häftlinge, sondern auch Leute aus der Bevölkerung zu Wort kommen. Warum?
Der Film hat drei Ebenen. Zum einen geht es um den Verlauf des Todesmarschs und die Menschen, die dabei waren. Die zweite Frage war: Wie hat die Bevölkerung das erlebt? Und die dritte: Warum reden wir heute noch davon? Wer waren die Leute, die dazu beigetragen haben, dass wir uns heute überhaupt noch an den Todesmarsch erinnern? Da erwischt man mittlerweile auch die allerletzten Zeitzeugen wie Hubertus von Pilgrim, der die wunderbaren Denkmäler geschaffen hat, er wird demnächst 90. Oder Ekkehard Knobloch, den ehemaligen Bürgermeister von Gauting, der maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass 22 dieser Denkmäler entlang der Todesmarschrouten aufgestellt wurden. Auch ihnen wollte ich ein kleines Denkmal setzen.
Wie haben die Menschen in der Gegend um Eurasburg auf Ihre Recherchen reagiert?
Anfangs war ich irritiert, weil die Reaktionen ganz anders als erwartet ausfielen. Da war nicht nur Mitleid mit den Gequälten, eher ein Unwohlsein. Viele Ältere wollten gar nicht darüber reden. Viele hatten vor allem die Plünderungen vor Augen, die mit der Befreiung einhergegangen sind. Sepp Bierbichler beschreibt in seinem Roman "Mittelreich", wie befreite Häftlinge nachts durch die Höfe gezogen sind und Hühner geschlachtet haben. Völlig verständlich, aber dass das den Bauern nicht gefallen hat, leuchtet auch ein. Man spricht von 4000, 5000 Häftlingen, die in Beuerberg merkten, dass ihre Bewacher weg waren, und sich befreit gefühlt haben. Es ist nur ein kleiner Aspekt dieses Films, aber ich wollte ihn nicht unter den Tisch kehren. Viele Menschen hier haben noch immer ein zwiespältiges Gefühl.
Und dieses zwiespältige Gefühl kann man einfach so stehenlassen?
Ja, das kann man, aber mir war es wichtig, es zu kommentieren. Ich habe die Historikerin Sybille Krafft vom Erinnerungsort Badehaus in Waldram gebeten, etwas zu diesen Plünderungen zu sagen.
Was hat Sie berührt bei diesem Projekt?
Zu sehen, dass es Menschen gab, die unter Lebensgefahr den Häftlingen geholfen haben. Die meisten haben die Türen zugemacht und wollten nichts damit zu tun haben. Aber es gab auch andere. Zwischen Aufkirchen und Dorfen hat eine Frau einen Häftling in ihr Haus gelassen. Ein SS-Mann wollte ihn erschießen, hat aber sie erwischt. Es war lebensgefährlich zu helfen. Und trotzdem gab es Menschen, die das getan haben. Die stärkste Geschichte ist für mich die eines Häftlings, dem es gelingt zu fliehen und sich im Starnberger Pfarrhof in Sicherheit zu bringen. Dann aber bittet er den Pfarrer, ihn zu verkleiden und ihm Lebensmittel zu geben - und stellt sich an die Straße und wartet auf den Todeszug, dem er gerade entkommen ist, um das Essen an seine erschöpften Kameraden zu verteilen. Diese Geschichte, das muss ich dazu sagen, wird nur in der Langfassung zu sehen sein.
Warum gibt es eine Kurzfassung?
Ich bin überzeugt, dass Erinnerungskultur von der persönlichen Begegnung lebt. Die Hoffnung ist, dass wir im Herbst die Gelegenheit haben, den ganzen Film in den Kinos, die am Weg liegen, zu zeigen und dann miteinander ins Gespräch zu kommen. Wenn es dann noch Passagen gibt, die für alle neu sind, entstehen womöglich noch einmal ganz andere Gespräche.
Sie verbinden die Interviewpassagen durch nachgestellte Szenen von Männern in Häftlingskleidung, die über eine regennasse Straße gehen. Hatten Sie keine Hemmungen, das Grauen zu inszenieren?
Ein Film von 90 Minuten Länge funktioniert nicht ohne solch visuelle Momente. Wir haben sehr viel experimentiert. Am Anfang haben wir den ganzen Weg mit der Drohne abgefilmt. Es hat ausgeschaut wie ein Landschaftsporträt vom Bayerischen Rundfunk. Über die jetzige Lösung kann man sicher streiten. Ich denke, dass dieser Rhythmus des Gehens und das Klappern der Schuhe noch einmal einen eigenen Zugang zum Thema schaffen.
Die Online-Premiere des Films ist am Donnerstag, 22. April, 19.30 Uhr. Anmeldung unter kronawitter@ikarus-film.de