SZ-Adventskalender:Leben im Ausnahmezustand

Lesezeit: 4 min

Mimosa (Mitte) ist auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen. Zweimal täglich bekommt die junge Frau drei Tabletten für ihr Herz. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Das Ehepaar Gashi pflegt seine drei schwer kranken Töchter seit Jahren aufopferungsvoll - trotz zahlreicher Schicksalsschläge und finanzieller Nöte. Für ein behindertengerechtes Fahrzeug fehlt der Familie das Geld.

Von Carolin Fries, Herrsching

Wie lange ist es her, dass Mimosa Gashi ( alle Namen von der Redaktion geändert) das letzte Mal die Berge gesehen hat? Die junge Frau legt die Stirn in Falten, kramt in den Erinnerungen der vergangenen Jahre. "Als ich in Murnau in der Reha war", sagt die 21-Jährige dann, "vor fünf oder sechs Jahren". Sie sehnt sich so sehr danach, den Blick in die Ferne schweifen zu lassen, erzählt sie. "Am liebsten mag ich es, wenn oben noch ein bisschen Schnee liegt." Doch um diese Sehnsucht zu stillen, ist Mimosa Gashi auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen. Die Frau mit den langen dunklen Locken hat Friedreich-Ataxie, eine unheilbare neurologische Krankheit. Sie ist bereits seit einigen Jahren auf den Rollstuhl angewiesen. Auch ihre beiden jüngeren Schwestern leiden an dem sehr seltenen schweren Gendefekt. Die Eltern kümmern sich nach Kräften um die Töchter - für ein behindertengerechtes Auto aber fehlt das Geld.

Newsletter abonnieren
:SZ am Sonntag-Newsletter

Unsere besten Texte der Woche in Ihrem Postfach: Lesen Sie den 'SZ am Sonntag'-Newsletter mit den SZ-Plus-Empfehlungen der Redaktion - überraschend, unterhaltsam, tiefgründig. Kostenlos anmelden.

Ausflüge oder Besuche bei der Verwandtschaft kann die Familie darum nicht unternehmen. Arztbesuche werden mit Bahn und Bus mitunter zu Tagestouren. "Das letzte Mal sind wir ins Herzzentrum nach München gefahren und waren acht Stunden unterwegs", erzählt Vater Wisar Gashi. Der 58-Jährige ist mit seiner Frau Aferdita aus dem Kosovo geflohen, da war Mimosa neun Monate alt und augenscheinlich kerngesund. Der Chemie-Laborant wollte seine kleine Familie in Deutschland vor den Kriegswirren in Sicherheit bringen. Zunächst lief alles nach Plan, der Vater fand einen Job als Hausmeister, die Familie wuchs. Niemand wusste, dass in allen drei Kindern die heimtückische Krankheit schlummerte. "Es war alles gut", sagt Wisar Gashi.

Tanja Aumann-Kuttruff ist eine Freundin der Familie Gashi und hilft bei den Formalitäten. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Dass Mimosa unheilbar krank war, erfuhren sie, als das Mädchen neun Jahre alt war. "Der Gang war ein bisschen schief", erinnert sich die Mutter. Zudem sei die Grundschülerin auffallend oft gestürzt. Sie besuchen mehrere Ärzte, bis sie eine Diagnose bekommen: Friedreich-Ataxie. Eine so seltene wie rücksichtslos fortschreitende Krankheit, die Gleichgewicht, Motorik und Koordinationsfähigkeit stört und zudem zu Sprechschwierigkeiten mit schleppender Stimme führt. Schätzungen zufolge leben in Deutschland etwa 1500 Menschen mit Friedreich-Ataxie. Die Krankheit bedingt häufig auch kardiologische und orthopädische Symptome.

Mimosa etwa hat nach einem Herzinfarkt bereits einen Stent implantiert bekommen, außerdem hat sie Skoliose und muss zur Stabilisierung der Wirbelsäule ein Korsett tragen. "Ich merke, dass ich immer schwächer werde", sagt die junge Frau. Sie arbeitet seit zwei Jahren bei der "Münchner Bücherkiste", einem Projekt der Stiftung Pfennigparade. Dort verkauft sie gebrauchte Bücher und erhält während der Arbeitszeit Physio- und Ergotherapie sowie eine psychologische Betreuung. Eigentlich habe sie von einem Beruf in der Kinderbetreuung geträumt, erzählt die 21-Jährige. "Doch das ist kein Beruf für Menschen mit einer Behinderung." Die älteste Tochter der Familie hat Pflegestufe fünf und den Behindertengrad 100. Sie kann nicht ohne Hilfe auf die Toilette, sich anziehen oder die Haare zum Zopf binden. Manchmal ist selbst das Essen zu anstrengend. "Dann habe ich einen vollen Teller vor mir stehen, aber es ist so schwierig, dass ich es bleiben lasse."

Die zweite Tochter hat versucht, sich das Leben zu nehmen

Mutter Aferdita muss weinen, wenn sie ihre große Tochter so reden hört. "Jetzt habe ich noch Kraft", sagt sie. Aber wie lange kann die 50-Jährige die Pflege der drei Kinder noch alleine leisten? Sie schlafe nur wenige Stunden in der Nacht, weil immer eines der Kinder um Hilfe rufe, erzählt sie. Mal muss sie schmerzende Beine massieren oder in eine andere Liegeposition helfen, mal einfach nur ein Glas Wasser ans Bett stellen. Die 20 Jahre alte Leonora kann ebenfalls kaum noch laufen, doch sie verweigert den Rollstuhl. Die Krankheit hat bei ihr eine schwere Depression ausgelöst, meistens liegt die junge Frau mit Pflegestufe drei in ihrem Zimmer im Bett.

Freunde will sie nicht treffen, Therapieangebote nicht annehmen - und auf keinen Fall im Ort mit ihren Einschränkungen gesehen werden. Zwei Suizidversuche mit Tabletten hat das Mädchen überlebt, der jüngste ist erst wenige Monate her. Die Eltern sind ratlos, wie sie ihrem Kind helfen sollen. Antidepressiva kann ihre Tochter nicht nehmen, "das verträgt sich nicht mit den Herztabletten", erklärt der Vater. "Es muss einfach immer jemand zu Hause sein."

Die 15 Jahre alte Kaltrina bleibt nachmittags oft in der Sozialwohnung und lernt. Dann können die Eltern einkaufen fahren. Der Vater beschreibt seine jüngste Tochter als ehrgeizig, "sie will Lehrerin werden". Die Mittelschülerin im M-Zweig hat die Diagnose Friedreich-Ataxie vor vier Monaten bekommen. Der Gang des Mädchens ist holprig, hin und wieder muss die Mutter sie von der Schule abholen, weil sie zu erschöpft für den Nachhauseweg ist. Doch noch bewältigt sie ihren Alltag überwiegend problemlos. "Die schlimmste Krankheitsphase ist zwischen 15 und 18 Jahren", sagt der Vater. "Und es gibt keine Medizin." Seine Frau und er sind rund um die Uhr für die Töchter da. "Ich habe nur die Kinder im Kopf", sagt Aferdita. Die 50-Jährige hat kaum Freizeit. "Manchmal schaffen wir es, zu zweit rauszugehen für einen kurzen Spaziergang", sagt sie und blickt zu ihrem Mann. Der 58-Jährige arbeitet als Hausmeister bis in den späten Nachmittag, dann hilft er seiner Frau bei der Pflege der Kinder. Die Familie bekommt Unterstützung von der Stiftung Ambulantes Kinderhospiz München (AKM) aus Inning.

Die Ersparnisse der Familie wurden bei einem Einbruch geklaut

In den vergangenen Jahren haben sie ein wenig gespart. Wisar Gashi verdient monatlich etwa 2000 Euro netto - das reiche, um die laufenden Kosten zu decken, sagt er. Das Pflegegeld für die beiden älteren Töchter haben sie darum in den vergangenen Jahren immer vom Konto abgehoben und zuhause in einem Tresor verwahrt. Sie wollten sich irgendwann ein Auto kaufen, um als Familie auch mit mehreren Rollstuhlfahrerinnen mobil sein zu können. "Ein Stück Lebensqualität", wie das AKM in seinem Sozialbericht schreibt. Knapp 35 000 Euro hatten sie schon zusammen, als vor knapp fünf Wochen in ihre Erdgeschoss-Wohnung eingebrochen und der Tresor aus dem Schlafzimmer gestohlen wurde.

Wisar Gashi zeigt den Kleiderschrank, wo sie die kleine Stahlkammer aufbewahrten. Zwei Töchter schliefen im Nebenzimmer, als der unbekannte Täter ihnen ein Stück ihrer Zukunft raubte und durch das bodentiefe Schlafzimmerfenster wieder verschwand. Gashi erstattete Anzeige bei der Herrschinger Polizei, die Beamten sicherten Spuren an der Terrassentür. Doch das Geld blieb verschwunden. Aferdita steht mit Tränen in den Augen vor ihrem Schrank im Schlafzimmer. Die Gewissheit um ein finanzielles Polster gab ihr das Gefühl von Sicherheit für eine ungewisse Zukunft. Jetzt zweifelt sie: "Noch haben wir Kraft. Doch wie lange noch?"

Tanja Aumann-Kuttruff ist seit fünf Jahren mit der Familie befreundet. Als die Sozialpädagogin und Erzieherin aus Andechs von dem Einbruch erfuhr, war ihr erster Gedanke: "Jetzt reicht's!" Sie will der Familie helfen, ein behindertengerechtes Auto über Spendengelder zu finanzieren und nahm Kontakt zum SZ-Adventskalender auf. "Wenn jemand Hilfe verdient hat, dann diese Familie."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusReise-Projekt
:Mit dem Fahrrad nach Südafrika

Michael Evertz aus Starnberg will auf seiner 30 000 Kilometer langen Reise durch 30 Länder für ein Miteinander beim nachhaltigen Umgang mit der Erde werben. 800 Tage will er unterwegs sein.

Von Carolin Fries

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: