Gereimtes von der Kanzel:"Viel zu lang waren wir bequem"

Lesezeit: 4 min

Der Herrschinger Pfarrer Ulrich Haberl bei seiner Narrenpredigt in der Erlöserkirche. (Foto: Nila Thiel)

"...und haben nicht recht hingesehen": Bei seiner traditionellen Satirepredigt am Faschingssonntag kritisiert der Herrschinger Pfarrer Ulrich Haberl den Umgang der evangelischen Kirche mit sexuellem Missbrauch. Das kommt gut an im Publikum.

Von Tim Graser, Herrsching

Als es dann plötzlich um das Thema Missbrauch geht, wird es totenstill in der Herrschinger Erlöserkirche. Auch die Clowns schauen nun betreten zu Boden. Oben auf der Kanzel steht Pfarrer Ulrich Haberl in Narrenkluft und reimt durch das langjährige Tabuthema: Ja, auch die stolzen Evangelen müssen sich nun "durch Krisen quälen", beim Missbrauch in Abgründe blicken, "wie vorher nur die Katholiken", gesteht der Pfarrer. Viel zu lange "waren wir bequem und haben nicht recht hingeseh'n." Ein Pfarrer sticht mitten ins Wespennest.

Eigentlich ist Ulrich Haberl ein braver Pfarrer. Mit unbequemen Themen, die in einer Kirche möglicherweise am Rande des Sagbaren kratzen - beispielsweise sexueller Missbrauch in den eigenen Reihen - hält er sich, wie die meisten Geistlichen, in seinen Predigten zurück. Am Faschingssonntag müsse aber "auch ein schlichter Pastor was wagen, und mal über die Stränge schlagen", kündigt Haberl in seiner alljährlichen, gereimten Satire-Predigt an.

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Und so holt der Pfarrer zum Rundumschlag aus. Die Themen: Herrschings Bürgermeister Christian Schiller als geneigter Selbstdarsteller, der Gemeinderat im Hickhack um eine Baumschutzverordnung, sexueller Missbrauch, Krisenstimmung in der Gesellschaft. Mit Witz und Verstand wagt sich Herrschings "Narrenpfaffe" in seiner Predigt an die schwierigen Themen, übt sich als Protestant in Selbstkritik und teilt kleine Seitenhiebe an die Lokalpolitik aus - zur Erheiterung des Publikums.

Ausstaffiert mit Mütze und Zepter tänzelt Haberl um kurz nach 10 in der Früh in die Kirche und steigt auf seine Kanzel. In Paarreimen hat Ulrich Haberl eine Predigt gedichtet, die es in sich hat. Zuerst spricht er die Katholiken an: "Euch hat die Hoffnung wohl befeuert, der Pfaffe hier wär' leicht bescheuert. Dass ihr 'fremdgeht', kann ich versteh'n. Auch ihr wollt mal 'nen Narren seh'n." Neben den "abtrünnigen Katholiken" heißt Haberl dann auch die "Heiden und Atheisten" in der Erlöserkirche Willkommen. "Weil Gott, wenn's ihn tatsächlich gibt, bestimmt auch Atheisten liebt."

Haberls satirische Narrenpredigten sind weit bekannt und haben sich inzwischen auch in Herrsching zur Institution in der Faschingszeit gemausert. Seit 25 Jahren tritt der Pfarrer als Narrenpfaffe auf, zuerst in Feldmoching, von 2000 an dann als Pfarrer in der Christuskirche in Neuhausen und seit 2020 am Ammersee.

"Genau den Zahn der Zeit getroffen": Angelika Knülle (rechts) mit Hella Dietsche in der Erlöserkirche. (Foto: Nila Thiel)

In Herrsching kommt das gut an. Angelika Knülle, die die Kirche am Sonntag als Teufel verkleidet betritt, hat die Predigt von vergangenem Jahr so gut gefallen, dass sie unbedingt wieder kommen wollte. Schon vergangenes Jahr habe Pfarrer Haberl "genau den Zahn der Zeit getroffen", sagt Knülle. "Es war witzig, hatte aber auch ernste Botschaften dabei." Sie hat deswegen vielen Freunden und Bekannten Bescheid gesagt - die Bänke der Erlöserkirche sind am Sonntag so voll wie sonst nur an Heiligabend.

Der Herrschinger Bürgermeister Christian nimmt's mit Humor. (Foto: Nila Thiel)

In der zweiten Reihe sitzt Herrschings Bürgermeister Christian Schiller (parteilos). Für ihn ist seine erste Narrenpredigt von Pfarrer Haberl "das Highlight im Herrschinger Fasching". Dabei ahnte er, was ihm blüht. Pfarrer Haberl hat im Vorfeld durchblicken lassen, dass er Schiller in seiner Predigt einen ganzen Absatz widmet hat: "Potz Blitz, da sitzt ein hochgepreister und leibhaftiger Bürgermeister. Wie heißt er gleich nochmal? Ach: Schiller! Ich frag mich schon: Was will er, im Kircherl von uns Lutherischen? Will er hier gar nach Stimmen fischen?"

Wahrscheinlich, so Haberl, sei der Bürgermeister ("ein Entertainer vor dem Herrn") viel mehr auf der Suche nach Inspiration für den Jahresempfang der Gemeinde, unter Herrschingern auch als "Schiller-Show" bekannt, bei dem der Bürgermeister gerne im Mittelpunkt steht. Beim Publikum landet Haberl mit seinen Schiller-Witzen einige Lacher und erntet lauten Applaus.

Am meisten Achtung aber erhält der Pfarrer für seine Kritik an dem Umgang mit Opfern sexueller Gewalt in der protestantischen Kirche. "Man forderte - total daneben - sie sollten endlich mal vergeben. Wer so leicht von Vergebung spricht, der kennt den Ernst des Lebens nicht." Hintergrund: Vor wenigen Wochen ist eine Studie bekanntgeworden, nach der mindestens 2200 Menschen in der evangelischen Kirche Opfer von Missbrauch geworden sind. Daraufhin bat die Glaubensgemeinschaft um Entschuldigung - nur reicht das vielen nicht.

Sie wollen sich im Sommer von Pfarrer Haberl trauen lassen: Anja Feix und Tobias Gierlichs, die wegen der Predigt extra aus Augsburg gekommen sind. (Foto: Nila Thiel)

Das Thema anzusprechen, dazu gehöre schon eine Portion Mut, finden zwei Matrosen. Hinter den Kostümen stecken Anja Feix und Tobias Gierlichs. Das junge Pärchen ist extra für Haberl aus Augsburg angereist, im Sommer wollen sie sich von ihm trauen lassen. "Ich fand es sehr gut, dass er konkret die Missbrauchsfälle angesprochen hat, das muss man sich trauen", sagt Feix. Die wichtigste Botschaft des Narrenpfaffen? "Einfach nicht wegsehen", sagt Tobias Gierlichs. "Der hat uns schon zum Nachdenken gebracht."

"Die Kirche war ganz lange viel zu leise", meint Mia Schmidt zum Thema Missbrauch. (Foto: Nila Thiel)

Auch Mia Schmidt, Mitglied im Kirchenvorstand der Drei-Seen-Gemeinde und Vorsitzende des Herrsching Seniorenbeirats, diesmal als fröhlicher Clown mit roter Nase, begrüßt Haberls gereimte Kritik an der evangelischen Kirche zum Umgang mit den Missbrauchsfällen. "Gott sei Dank hat er das angesprochen. Die Kirche war ganz lange viel zu leise, was das betrifft."

Bevor Haberl nach gut 20 Minuten gereimter Predigt zum Schluss kommt, gibt es vom Narrenpfaffen noch einen Seitenhieb in Richtung des Herrschinger Gemeinderates, der sich vergangenes Jahr über die Einführung einer Baumschutzverordnung zankte: "In Herrsching steppt wie ein ganz wild geword'ner Bär der Streit darüber hin und her. Sich zu streiten, unnachgiebig und bis auf's Blut. Ob das dem ganzen Dorf dann so gut tut?"

Auch wenn im Land aktuell vor allem Krisenstimmung herrsche: "Am Ende wird die Liebe siegen. Wir lassen uns nicht unterkriegen!", predigt der Pfarrer von seiner Kanzel. Und so schließt er mit einem freundlich provokanten Zwinkern und den Worten: Die Hoffnung stärke alle Geister, "bei Bürgern und beim Bürgermeister."

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