Handgemachtes aus Utting:Die Frau, die über 500 Puppen genäht hat

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Maria Tannigel mit einer ihrer Lieblingspuppen. Von Kopf bis Fuß hat sie alles in Handarbeit angefertigt. (Foto: Georgine Treybal)

Maria Tannigel fertigt Kinderpuppen in feinster Handarbeit an. Dabei geht es ihr um mehr als die Herstellung von Spielzeugen.

Von Madeleine Rieger, Utting

Durch die große Fensterfront der Puppenwerkstatt in Utting fällt die Sonne auf eine Stoffpuppe mit roten Haaren und gehäkeltem Mützchen. Zwei ovale Kreise aus grünem Garn bilden die Augen, der Mund ist nur mit einer dünnen, roten Linie angedeutet. Beinahe könnte man meinen, dass die Puppe einen anlächelt. Oder doch nicht? Es hat etwas von Mona Lisa, und das ganz bewusst. Durch die zurückhaltend gestalteten Gesichter sollen die Puppen zur neutralen Projektionsfläche für die Kinder werden. "So entsteht ein individueller Bezug zum Kind", sagt Maria Tannigel.

Die 38-Jährige, blauweißes Kleid, bedachte Stimme, ist eine der wenigen Menschen, die noch Puppen per Hand fertigen. In Tannigels Gegend gibt es nur eine weitere Puppenmacherin, gleich einen Ort weiter in Dießen am Ammersee. Damit besetzt Tannigel in Zeiten der Massenherstellung eine kleine Nische - von der sie gut leben kann, wie sie sagt.

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Wie wird man Puppenmacherin? Tannigel ist in Thüringen geboren, was man heute aber nicht mehr hört. Seit ihrer Jugend lebt sie in Bayern. Eigentlich ist Tannigel ausgebildete Tagesmutter, jahrelang war sie dann hauptberuflich Mama ihrer vier Kinder.

Das hat sie letztendlich auch auf die Idee gebracht, selbst Puppen zu nähen. Ihrer ersten Tochter wollte sie eine Puppe als Wegbegleiter schenken, doch nichts auf dem Spielzeugmarkt stellte sie zufrieden. Aus Stoff sollte sie sein und langlebig. Ihre eigene Lieblingspuppe hatte ihre Mutter eigenhändig für sie genäht. Sie selbst hatte als Kind einen großen Bezug zu ihren Puppen. "Sie waren mir ein treuer Begleiter und oft an meiner Seite, wenn jemand anderes nicht da sein konnte", sagt Tannigel.

In zwei verschiedenen Größen gibt es die Tannigel-Puppen. (Foto: Georgine Treybal)
Die Materialien sind alle bio. (Foto: Georgine Treybal)

Sie kaufte Stoffe und Garn und nähte ihre ersten eigenen Puppen. Doch es reichte ihr noch nicht. Sie machte einen mehrmonatigen Kurs in der Puppenherstellung. Bald fertigte sie die ersten Stoffpuppen für Freunde und Familie. Mittlerweile ist sie hauptberufliche Puppenmacherin und hat schon über 500 Puppen angefertigt. Die zwei Nähmaschinen, die umgeben von Stoffen und Fäden in bunten Farben auf ihrer Werkbank stehen, sind ihre wichtigsten Arbeitsgeräte. Vieles näht sie aber auch mit der Hand, manchmal hilft ihre Mutter beim Häkeln und Stricken mit. Sie nimmt ein einzelnes Stoffohr und befestigt es mit ein paar festen Stichen am Kopf eines werdenden Stoffmenschen. Die Gesichter stickt sie in feinster Handarbeit auf. In diesem Moment fangen die Puppen für sie an zu leben.

Vor vier Jahren dachte sie sich dann: "Ich kann jetzt durchstarten." Die ersten drei Kinder waren alt genug, sie wagte den Sprung in die Selbstständigkeit. 2020 kam dann ihr viertes Kind zur Welt. Sie stemmte in diesem Jahr gleichzeitig Baby, Vollzeitarbeit und Pandemie. Erst hatte sie mit der Corona-Situation zu kämpfen, doch dann ergaben sich immer mehr Kooperationen mit Online-Händlern, die ihre Puppen ins Sortiment aufnahmen. Mittlerweile hat sie ihren Namen zur Marke gemacht. Als Logo näht sie an die Puppen eine Tanne mit einem Igelgesicht drunter - Tannigel eben.

Jede Puppe bekommt ein eigenes Outfit. (Foto: Georgine Treybal)
Mit ein paar Stichen hat Tannigel ein Stoffohr befestigt. (Foto: Georgine Treybal)

Zwei verschiedene Größen von Tannigel-Puppen gibt es. Der Preis ist zwar mit 70 Euro für die kleinen und um die 250 Euro für die Großen recht stattlich, dafür sind alle Produkte wie Stoff, Schafwolle und Garn von Bio-Herstellern. Die Puppen fertigt sie nach der Vorstellung der Kunden, die Herstellung richtet sich also nach der Nachfrage. Mittlerweile verschickt sie die Puppen bis nach Norwegen und Spanien. Gibt man bei Google Maps das Stichwort "Puppen" ein, taucht in großen Lettern ihr Unternehmen auf. "Die Menschen, die mich suchen, finden mich auch", sagt sie.

Hin und wieder standen Interessierte einfach vor der Tür des großen Hauses, das zugleich Puppenwerkstatt und Wohnung für sie, ihre Kinder und ihre Eltern ist. Es sei ihr ein großer Bedarf zu wissen, wo das Puppenkind hingeht, sagt sie. Daher stellt sie den Eltern oft Fragen nach dem Namen, Eigenschaften und dem Wesen des Kindes. Das verrate ihr schon viel darüber, wie das neue Spielzeug aussehen soll, sagt Tannigel. Kunden können selbst bestimmen, welche Haar-, Augen-, und Hautfarbe die Puppe bekommen soll. Auf dem Arbeitstisch liegen eine Tannigel-Puppe im Afrolook und eine kleine rothaarige Pippi Langstrumpf nebeneinander. In einem langen Sideboard mit unzähligen Schubladen, das den Eingang zu ihrer Werkstatt bildet, bewahrt sie Stoffmuster und Wollgarn auf. Bisher habe sie immer alle Kinder-und Elternwünsche umsetzen können, sagt sie. Das neue Spielzeug solle ein Wegbegleiter werden, und nicht nur ein Produkt.

Die Puppen sollen Begleiter fürs Leben werden

Als stillen Menschen beschreibt sich die 38-Jährige. Die Arbeit in der Puppenwerkstatt habe für sie etwas Meditatives und bedeute oft auch eine Auszeit vom turbulenten Familienalltag. Die Werkstatt ist ein ruhiger Ort und eigentlich ein Wintergarten, der sich an die Wohnräume anschließt. Der Blick fällt auf die Hügel und Bäume des Ammersee-Umlandes. Oft fehlte ihr hier jedoch die Interaktion mit anderen und eine Möglichkeit, Menschen direkt zu begeistern und zu bestärken. Auch wollte sie dem klassischen Handwerk wieder mehr Attraktivität verleihen. Deshalb rief sie schon vor zehn Jahren Kurse ins Leben, bei denen jeder selbst seine Wunschpuppe kreieren kann.

Hier steht der Herstellungsprozess im Vordergrund. Für eine Puppe braucht Tannigel zwischen sechs und zehn Stunden. "Am Anfang habe ich Stoff und Wolle", erklärt sie. Schablonen werden dann aufgezeichnet und geschnitten, fertiggenähte Teile mit Wolle gestopft, Haare und Käppchen festgemacht und schließlich Kopf und Körper zusammengenäht. Das sei der schönste Moment, sagt sie. "Hier bekommt der stoffgewordene Freund seine Seele."

Erwachsene verarbeiten im Puppenherstellungsprozess, den sie betreut, oft Traumata und Trauer. Ungeborenen Kindern, die im Mutterleib gestorben sind, versuchen Frauen mit den winzigen Püppchen ein Gesicht zu geben. Um trauernden Familien eine Möglichkeit zu bieten, diese sogenannten Sternenkinder zu beerdigen, arbeitet die Puppenwerkstatt mit Bestattungsinstituten zusammen.

Auch für andere sollen die Kurse einen therapeutischen Effekt haben. Die Puppe soll dann als Abbild des Kursteilnehmers fungieren. Sie kann mit Merkmalen gestaltet werden, die einem als Kind vielleicht abgesprochen wurden. "So, wie du bist, bist du gut", sollen Puppen sowohl Kindern als auch Erwachsenen als tägliche Erinnerung vermitteln. Bald wird Tannigel ein Puppenseminar für eine reine Männergruppe geben.

"Der Bedarf an Aufarbeitung ist mit dem Handwerk wahnsinnig gut zu vereinbaren", so Tannigel. Daraus ergeben sich unter anderem Kooperationen mit Psychologen. Oft kommen auch Menschen zu ihr, die gerade an einem Wendepunkt in ihrem Leben stehen. Diese finden auf der großen Terrasse vor der Werkstatt, wohin Tannigel gerne mal ihre Nähkurse verlagert, den Mut, neue Entscheidungen zu treffen. Ein Prozess, den die Puppenmacherin gerne mitverfolgt. Auf die Frage, ob sie sich mehr als Künstlerin oder Handwerkerin sehe, antwortet die Puppenmacherin wahrscheinlich genau deshalb folgendermaßen: "Als Wegbegleiterin."

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