Wenn das Auto lenkt, der Fahrer nicht mehr denkt, sondern stattdessen das Steuer aus der Hand gibt und entspannt Zeitung liest, digital auf dem Tablet natürlich, dann nennt man das hochautomatisiertes Fahren. Damit das Auto weiß, wo es lang geht, braucht es exakte Daten über seine Position und die Fahrtrichtung, aber auch Informationen darüber, was in seinem Umfeld passiert und was am Horizont vor ihm liegt.
Gängige Navigationssysteme, wie sie heute in Smartphones zu finden sind, aber auch fest im Auto eingebaute Navis, reichen da bei weitem nicht mehr aus. Sie werden über das Satellitennavigationssystem GPS mit Positionsdaten versorgt, die mit den im Navi gespeicherten Kartendaten abgeglichen werden.
Um sich nicht zu verfahren, wenn der Mensch am Steuer sitzt und nachjustiert, reicht diese Genauigkeit aus, aber für wirklich automatisches Fahren braucht es wesentlich genauere digitale Karten. Darin müssen dann nicht nur die Straßen verzeichnet sein, sondern auch Verkehrszeichen, Laternenmasten, Leitplanken, Ampeln - "Passpunkte" nennt Hartmut Runge diese metallischen Objekte, die dem Auto eine exakte Positionsbestimmung auf der jeweiligen Fahrspur ermöglichen. Runge arbeitet beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen, er ist Projektleiter für "Drivemark". Sein Ziel: Ein Verfahren schaffen, um für jeden Ort der Welt mittels Satellitendaten hochgenaues Futter für das neue Navi bereitzustellen.
Dieses Datenmaterial stammt zum einen aus Radarmessungen, die von Satelliten aus vorgenommen wurden, aber auch aus Testfahrten, die mit einem speziell ausgerüsteten Fahrzeug unternommen werden, das nichts mehr mit dem von Google Streetview bekannten Rundum-Kamera-Aufbau zu tun hat. Auf wenige Zentimeter genau ist das Kartenmaterial, in dem die Passpunkte sozusagen der Kern sind. Anhand von Laternenmasten und anderen markanten Objekten, auf die ein Autofahrer normalerweise nicht achtet, wird die genaue Position des Fahrzeugs errechnet, während - so das Zukunftsszenario - Kameras, Radar- und Laserstrahlen die Umgebung abtasten. Wie in der Luftfahrt sind voneinander unabhängige Systeme im Fahrzeug der Schlüssel dafür, dass Unstimmigkeiten und Ausfälle nicht zum Problem werden.
Die Technologie, die das genaue Vermessen von Verkehrs- oder sonstiger Infrastruktur von Satelliten aus möglich macht, die in 514 Kilometer Höhe um die Erde kreisen, haben Hartmut Runge und sein Team in jahrelanger Arbeit perfektioniert. "Natürlich, am DLR kennen wir uns mit Satelliten und ihren Daten aus", sagt er. Schließlich werden von hier aus dem Satelliten-Kontrollzentrum auch Weltraum-Missionen wie die Internationale Raumstation ISS gesteuert, aber auch in der Erdbeobachtung sitzen in Oberpfaffenhofen die weltweit führenden Spezialisten. Das Verfahren basiert auf hochpräziser Radartechnologie. Vor allem metallische Objekte reflektieren den Radarstrahl, und die Zeitdifferenz zwischen dem gesendeten und wieder empfangenen Signal ergibt zusammen mit der Position des Satelliten den räumlich genauen Standort der Masten.
Wie kam der Elektroingenieur Runge auf die Idee, Satellitendaten, die eigentlich für die Erdbeobachtung gedacht waren, für automatisiertes Fahren zu verwenden? "Jedes Mal sprangen mir die winzigen, weißen Punkte ins Auge, wenn ich Radaraufnahmen des Satelliten TerraSAR-X betrachtet habe", erinnert sich der 62-Jährige. "Die Punkte waren hell und brillant scharf." Der Wissenschaftler vom DLR-Institut für Methodik der Fernerkundung ging den leuchtenden Hinweisen nach - und machte dabei eine überraschende Entdeckung.
Masten, Schilder, Ampeln und ähnliche Objekte entlang der Straßen steckten hinter der Strahlkraft. Für die Erstellung der typischen Erdbeobachtungsprodukte wie Bodennutzungskarten oder Höhenmodellen waren sie nicht von Bedeutung. Doch das Interesse des Forschers war geweckt: Kollegen von ihm hatten gerade ein Verfahren zur hochgenauen Koordinatenmessung entwickelt. Runges Idee: Navigation anhand dieser präzise vermessenen Objekte, "Landmarken" genannt.
Mittlerweile hat sich daraus am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt ein eigener Entwicklungszweig gebildet. "Wir haben schon Karten für diverse Zwecke und besonders für die Testgebiete für automatisiertes Fahren wie in Sunnyvale in Kalifornien eigens erstellt und verkauft", sagt Runge. Über die Verkaufspreise hüllt er sich in Schweigen, ebenso über die Käufer und möglichen Lizenznehmer aus dem Kreis der Technologieunternehmen. Aber: "Wir könnten eine hochgenaue Karte von Gebieten in Nordamerika oder Asien produzieren, ohne jemals einen Fuß in das jeweilige Land gesetzt zu haben."