Junge KZ-Häftlinge:"Um diese Kinder hat niemand geweint"

Lesezeit: 4 min

"Ich hatte Angst davor, das erste Gesicht zu zeichnen", erinnert sich Bockelmann. Mehr als einhundert Porträts sind inzwischen entstanden. (Foto: Nila Thiel)

Der Sommerkeller in Bernried zeigt Zeichnungen von jungen Menschen, die in Konzentrationslagern ermordet wurden. Warum es so wichtig ist, sich den Blicken der getöteten Unschuldigen zu stellen.

Von Katja Sebald, Bernried

Ein Junge trägt seinen einzigen Anzug, ein Mädchen hat sich für das Foto eine Schleife ins Haar gebunden. Sie wollen einen guten Eindruck machen. Sie wissen noch nicht, was man ihnen antun wird. Andere Kinder und Jugendliche sind bereits in die gestreifte Häftlingskleidung gezwungen worden, man hat ihnen die Haare geschoren. Ihrem Blick kann man sich kaum entziehen, das Entsetzen und die Angst ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Es sind Bilder, die unter die Haut gehen. Mehr als dreißig großformatige Porträts von jungen Menschen, die von den Nationalsozialisten in Konzentrationslagern ermordet wurden, sind derzeit im Sommerkeller in Bernried zu sehen.

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"Um diese Kinder hat niemand geweint und es wäre wunderbar, wenn man das jetzt nachholen könnte", sagt der 79-jährige Künstler Manfred Bockelmann. Sein Projekt "Zeichnen gegen das Vergessen" stellt er nach Stationen in Wien, Berlin, Lissabon, New Jersey, Zagreb und weiteren Städten nun auch am Starnberger See vor. Zu sehen ist eine Ausstellung, die sich bei weitem nicht nur mit der Vergangenheit beschäftigt. Kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag sei er darauf gestoßen, sagt er, dass in seinem Geburtsjahr 1943 Tausende und Abertausende von Kindern nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden.

Weil sie jüdischer Herkunft waren, weil sie Sinti oder Roma waren, weil ihre Eltern Gegner des Regimes waren - oder weil sie körperliche oder geistige Gebrechen hatten. Sie waren zwischen zwei und 18 Jahren alt und hätten ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt. Er selbst sei sehr privilegiert auf dem Gut der Eltern in Kärnten aufgewachsen. Er habe die "Schokoladenseite erwischt", weil er in der "richtigen" Wiege gelegen habe. Das sei kein Verdienst, sondern einfach nur Glück gewesen, sagt Bockelmann.

Bockelmanns Vorlagen waren die erkennungsdienstlichen Fotografien, die nach der Deportation in den Lagern angefertigt wurden. (Foto: Nila Thiel)
Frontal und im Profil wurden die unschuldigen Kinder und Jugendlichen abgelichtet - als wären sie Verbrecher. (Foto: Nila Thiel)
Dieses Mädchen hat sich extra eine Schleife ins Haar gebunden, um einen guten Eindruck zu machen. (Foto: Nila Thiel)

Bockelmann suchte nach Bildern, er durchforstete Archive und reiste nach Auschwitz. Er fand die erkennungsdienstlichen Fotografien, die nach der Deportation in den Lagern angefertigt wurden, frontal und im Profil. Als seien die unschuldigen Kinder Verbrecher. Es waren Bilder, die junge Juden, Sinti und Roma als "andere" und "minderwertige" Menschen darstellen sollten. In Wirklichkeit aber zeigen sie schöne junge Menschen, in deren Gesichtern auch im Angesicht des Grauens eine große Würde und Anmut zu sehen ist.

"Ich hatte Angst davor, das erste Gesicht zu zeichnen", erinnert sich Bockelmann. Er habe mit dem Hintergrund begonnen, dann die Kleidung gezeichnet, die Haare. Er arbeitete für diese Reihe in einer eigenwilligen Technik mit schwarzer Kohle: Das Motiv entsteht aus vertikal verlaufenden Linien, Auslassungen und Verdichtungen. "Nach dem ersten Gesicht wusste ich, dass ich es kann", sagt er. Und beinahe gleichzeitig wusste er, dass er nie wieder aufhören würde, die Porträts zu zeichnen. Er habe das Gefühl, die Menschen kennenzulernen, während er sie zeichnet, sagt er. Weit über 100 Porträts sind mittlerweile entstanden. Im ersten Jahr verfolgte er das Projekt im Geheimen, nicht einmal seiner Familie erzählte er davon.

Der Künstler ist der Bruder von Udo Jürgens

Manfred Bockelmann, 1943 in Klagenfurt geboren, ist der jüngere Bruder des Sängers Udo Jürgens. Er studierte Frescomalerei, Grafik und Fotografie in Graz und arbeitete danach als Fotograf für große Magazine. Von 1966 bis 1975 lebte er in München. Unter anderem realisierte er mit dem Künstler Friedensreich Hundertwasser das bekannte Buch "Hundertwasser Regentag". Ab 1974 konzentrierte er sich mehr und mehr auf die Malerei. Der Fotoapparat diente ihm dabei zunächst als "Skizzenblock". Heute stehen Fotografie und Malerei in seinem Werk gleichberechtigt nebeneinander.

Manfred Bockelmann ist zwar nicht ganz so berühmt wie sein Bruder, aber als Künstler international erfolgreich. Seine Arbeiten sind in weit mehr als hundert Ausstellungen zu sehen gewesen. Landschaften gehören bis heute zu den zentralen Themen seiner künstlerischen Arbeit. Er malt unter anderem blühende Straßenränder oder herabfallendes Herbstlaub in monumentaler Größe. Es gehe ihm darum, Dinge darzustellen, die man ständig sieht, aber in ihrer Einzigartigkeit nicht wahrnimmt, erläutert er.

Er habe einfach nur Glück gehabt, in der "richtigen" Wiege gelegen zu haben, sagt Manfred Bockelmann. (Foto: Nila Thiel)

Über seinen Galeristen wurde der Münchner Filmproduzent David Kunac auf Bockelmanns Projekt "Zeichnen gegen das Vergessen" aufmerksam. Zusammen mit der Regisseurin Bärbel Jacks begleitete er ihn mit der Kamera beim Zeichnen, auf seinen Recherchereisen und bei Gesprächen mit Zeitzeugen. Der 67-minütige Film dokumentiert auch die Vorbereitungen und die Eröffnung der ersten Ausstellung zu diesem Projekt, die 2013 im Leopold Museum in Wien stattfand. Über Kunac entstand auch der Kontakt nach Bernried, wo Brigitte Funk-Rütten die Organisation übernahm. Bockelmann wird am 8. Mai anlässlich des 78. Jahrestages zum Gedenken an das Kriegsende verschiedene Schulklassen durch die Ausstellung führen.

Bockelmann will Nummern und Namen ein Gesicht geben

Auch der Dokumentarfilm wird im Rahmen dieser Veranstaltung gezeigt. Vor der Kamera sagt Bockelmann, es gebe keine Worte für das Entsetzliche, das geschehen ist. Die Zahl der Ermordeten sei unvorstellbar groß. Es gehe ihm darum, zumindest einigen wenigen Namen und Nummern Gesichter zu geben, wenigstens ein paar Menschen aus der Anonymität der Statistik herauszuheben. "Es muss uns immer bewusst bleiben, was passiert ist", sagt er, "meine Angst ist, dass sich sonst alles wiederholen könnte."

Er wolle die Kinder aus der Dunkelheit des Verdrängens zurück ins Leben holen. Das Filmteam war auch dabei, als er in New Jersey den Holocaust-Überlebenden Murray Kohn traf und ihm das Porträt seiner Schwester überreichte. Der Schmerz höre nie auf, er werde das letzte sein, was er in seinem Leben fühle, sagt Kohn unter Tränen. "Es darf nie wieder Krieg geben", sagt eine andere Überlebende, die für den Film interviewt wurde, "nie wieder!"

Die Ausstellung "Zeichnen gegen das Vergessen" von Manfred Bockelmann ist bis zum 25. Mai wochentags von 11 bis 14 Uhr und am Wochenende von 10 bis 16 Uhr im Sommerkeller in Bernried (unter dem Rathaus) zu sehen.

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