Dekorative Stoffbahnen an der Decke, darunter Lüster aus Glas und viele Stühle mit Sitzpolster, das Ambiente sieht nicht nach einem Aufstand aus. Tatsächlich finden in der neuen Theaterfabrik ja auch Hochzeiten statt. Doch von Liebe ist am Donnerstagabend nichts zu spüren, als die etwa tausend Menschen aus Daglfing, Johanneskirchen und weit darüber hinaus mit den Neubauplänen der Stadt im Nordosten abrechnen. Zu brachial, zu groß, zu wenig durchdacht, zu sehr von oben herab, lauten die Vorwürfe. Enttäuschung, Misstrauen, Wut und Wahrheiten, die bis an die Grenze und darüber hinaus strapaziert werden, prägten die Diskussion, die die Initiative Bündnis Nordost organisiert hat. Das Verhältnis von Bürgern und Stadtpolitik erinnert eher an einen Rosenkrieg als an eine Hochzeit.
Die Chefs der drei großen Fraktionen stellen sich dieser Gefühlsflut als Gäste auf dem Podium höchst unterschiedlich: Alexander Reissl (SPD) gibt gekränkt bis schnippisch den unverstandenen Aufrechten, Katrin Habenschaden (Grüne) versucht sich als Brückenbauerin, ohne sich zu sehr zu verbiegen, und Manuel Pretzl (CSU) wirft sich den Bürgern vehement und am Beifall gemessen einigermaßen erfolgreich an den Hals.
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Das zeigt die Diskussion bei der Info-Veranstaltung zur SEM. Die einen sind für, die anderen gegen das große Bauprojekt. Wie sollen Bürger und Politik mit dem enormen Wachstum der Stadt umgehen?
Pretzl liefert die politische Neuigkeit des Abends: Die CSU werde die Pläne für den Nordosten nicht mehr mittragen. Nicht mehr das Ziel, Wohnungen für bis zu 30 000 Menschen zu bauen. Und nicht mehr das Instrument einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme (SEM). Diese sieht als letztes Mittel Enteignungen von Grundeigentümern vor, die allerdings alle Parteien im Stadtrat ausschließen. Dennoch ist die SEM, bei der mit einem Schlag auch die Grundstückspreise eingefroren werden, der große Aufreger. "Dieses Thema ist so verbrannt, dass man hier nicht weiterkommt. Wir brauchen ein anderes Modell, das die Bevölkerung mitnimmt", sagt Pretzl. Von der Größe her könne das neue Viertel eher 10 000 bis 15 000 Einwohner vertragen als das Doppelte.
Diese komplette Abkehr von der bisherigen Position lassen sowohl der Regierungskollege Reissl als auch die Oppositionsführerin Habenschaden unkommentiert, nicht aber eine wache Bürgerin, die, wie einige im proppevollen Saal, mit ihrem Namen nicht durchdringt oder ihn nicht nennt. CSU-Chef Pretzl trete hier plötzlich als Gegner der SEM auf, "wo doch ihr Vertreter im Ausschuss eine andere Meinung" vertreten habe. Sie spielt auf den Beschluss für einen Ideenwettbewerb für das neue Baugebiet im Nordosten an, den der Planungsausschuss am 6. Februar verabschiedet hat. Mit den Stimmen der CSU, die auch bei den anderen Beschlüssen zur SEM bisher zugestimmt hat.
Am Tag darauf reagiert auf Anfrage SPD-Fraktionschef Reissl doch. "Die CSU hat ohne Not ein sinnvolles Instrument aufgegeben", kritisiert er. Eigentlich stehe beim jetzigen Stand der Planung gar keine Entscheidung pro oder contra SEM an. Sollte die CSU eine Abstimmung im Stadtrat erzwingen, stehe die SPD zur SEM. Das bestätigt Reissl unter Buhrufen schon auf der Podiumsdiskussion. Bisher hatte dieses Planungsinstrument eine klare Mehrheit im Stadtrat, selbst ohne CSU würde es dafür im Moment wohl noch reichen.
Denn neben kleineren Parteien stehen auch die Grünen in der Podiumsdiskussion und am Tag danach an der Seite der SPD. "Unser Ziel ist nach vor die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum", sagt Fraktionschefin Habenschaden. "Mit der CSU sehe ich allerdings gerade keinen Weg, diesem Ziel näher zu kommen." Die Grünen wollen die SEM weiter verfolgen, die Bebauung aber nicht auf 300 Hektar verteilen, sondern auf 91 Hektar Häuser mit fünf bis sieben Stockwerken errichten. Die Stadt habe im Moment kein anderes Instrument als die SEM an der Hand, um ausreichend Wohnungen auch für Geringverdiener zu bauen, sagt Habenschaden. Wichtig sei vor allem, dass die Bodenpreise verträglich bleiben.
CSU und Grüne haben auf der Podiumsdiskussion am Donnerstag gegenüber der SPD den Vorteil, dass sie schon bei Redebeiträgen vorab dem Publikum einheizen können. Der Landtagsabgeordnete Robert Brannekämper (CSU) beherrscht das Vokabular dazu perfekt. Das neue Viertel samt SEM sei "keine Vision, sondern ein städtebaulicher Albtraum". Er prangert die "Ignoranz" in der Planung und auch im Umgang mit den Bürgern an. Man brauche schon Wohnungen, aber keinesfalls viel mehr als 10 000. Sein Landtagskollege von den Grünen, Christian Hierneis, kommt auf eine ähnliche Zahl, auch wenn er das aus Sicht eines langjährigen Chefs des Bund Naturschutz in München errechnet. Dass seine Stadtratsfraktion eher bei 30 000 Einwohnern liegt, diesen Widerspruch pflegen die Grünen so gekonnt wie lange die CSU, die bei wichtigen Themen auch gerne dagegen und dafür war. "Einige zehntausend" Wohnungen könne die Stadt auf versiegelten Flächen bauen, sagt Hierneis. Als Beispiel führt er den Parkplatz am Euro-Industriepark an, der Rest bleibt im Ungewissen.
SPD-Einzelkämpfer Reissl und CSU-Mann Brannekämper streiten sich auf der Bühne mit und ohne Mikro so heftig ("Hör doch auf, Robert, ständig solchen Unsinn zu erzählen"), dass es einer Besucherin zu bunt wird. Sie wundere sich, dass der Abend zu "einem Schlagabtausch" der Politik werde. "Polemische Antworten" habe man nun genügend gehört. Die Besucher kommen dann aber doch noch ausführlich zu Wort. Eine Anwohnerin erklärt, sie sei bei vielen Workshops zum Neubauviertel gewesen, doch gebracht habe das nichts. "Wenn Sie das Vertrauen der Menschen wieder gewinnen wollen, müssen Sie arbeiten." Richard Diener drückt das ungleich direkter aus. Er habe die "Arroganz der SPD und die Doppelmoral der Grünen" satt, sagt er. Was sich ändern muss, ergibt sich aus vielen Redebeiträgen: Das Problem mit dem Verkehr muss glaubwürdig gelöst werden, von der Überdeckelung der S-Bahn über die Verlängerung der U-Bahn bis zu einem Konzept für die vielen Autos der Anwohner. Die Bodenpreise sollten fair sein und die Kommunikation müsse besser werden, oftmals wird diese "nicht auf Augenhöhe" wahrgenommen. Und je nach Einstellung muss die Zahl der neuen Nachbarn von 10 000 bis auf null sinken.
Sehr plastisch drücken die Landwirte ihre Sorgen aus. Sie könne nicht mehr schlafen, wache nachts mit Ängsten auf, sagt Barbara Oberfrank. Landwirt sein, sei "kein Beruf, sondern ein Leben", sagt ein Kollege. Und spricht aus, was die meisten Besucher denken. "Wir wollen die SEM nicht." Markus Bichler, einer der Organisatoren vom Bündnis Nordost, verspricht: Der Widerstand werde weitergehen, "das war erst der Anfang".