Rückblick 2014:Die Party-Stadt

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11 000 Menschen erschienen zum "Dîner en blanc" - auch so friedlich kann die Eroberung des öffentlichen Raums aussehen. (Foto: region.mue)

Ob zu Tausenden auf dem Rad oder in Weiß zum Dinner auf dem Marienplatz: Im Sommer zelebrieren die Münchner das oft beschworene Wir-Gefühl. Mit dem Ergebnis, dass sie dorthin vorrücken, wo noch kein Münchner vor ihnen war.

Von Christiane Lutz

Als am Mittag des 3. August mehr als 11 000 Menschen mitten auf dem Mittleren Ring radelten, war da dieses Gefühl. Als an einem Sommerabend im Juli Hunderte weißgekleidete Menschen zu einem Massenpicknick, Pardon, einem "Dîner en blanc" auf dem Marienplatz zusammenkamen, war es ebenfalls da. Nach dem WM-Sieg der Nationalmannschaft auf der Leopoldstraße - so was von da. Nein, gemeint ist nicht der Beginn eines autofreien Zeitalters in München. Was da zu spüren war, ist eine weitere Stufe hin zu einer gemeinschaftlichen Münchner Selbstverständlichkeit, nennen wir es einmal so. Das Selbstbewusstsein, sich Räume zu erschließen, die sonst nicht zugänglich sind. Die Lust am allzu oft beschworenen Wir-Gefühl, zelebriert im öffentlichen Raum.

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Zu Beginn steht die Erkenntnis: Alles strebt, alles drängt nach draußen. Der Münchner weitet seinen privaten Raum immer mehr über seine überteuerte Mietswohnung auf die ganze Stadt aus. Er möchte sich an der Isar genauso zu Hause fühlen wie beim abendlichen Bier am Gärtnerplatz oder beim Oper-Schauen auf dem Max-Joseph-Platz, sofern nicht wieder ein plötzlicher Sturm alles davonbläst wie in diesem Jahr. Das Erleben seiner Stadt ist geliebte Freizeitaktivität des Münchners, und er erhebt deswegen den Anspruch, überall er selbst sein zu dürfen. Der Münchner erlebt dabei gern zusammen mit anderen Münchnern. Denn die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten wirkt wie das Koffein im Kaffee: aufputschend.

Wer in der Masse jubelt, ist Teil von etwas Größerem

Es geht ihm nicht darum, durch den nach Abgasen riechenden Brudermühltunnel zu radeln, es geht darum, das gemeinsam mit anderen zu tun. Denn erst durch die Vielzahl an Teilnehmern wird aus einem verirrten Radfahrer im Tunnel die "BR-Radltour". Es gibt Menschen, die sich im Sommer im Englischen Garten bewusst in die belebtesten Ecken legen, weil sie das Gefühl genießen, mittendrin zu sein. Der Rausch wird, im Kollektiv angetrunken, noch rauschhafter. Wer allein auf der Leopoldstraße jubelt, ist sonderbar. Wer in der Masse jubelt, ist Teil von etwas Größerem, von einem, jetzt kommt es, Event. Diese Eventisierung trägt bisweilen natürlich auch skurrile Blüten, wenn eifrige Business-Menschen Geschäfte wittern und zu "Holi-Festivals" laden oder ernsthaft für 2015 ein "Rock-Festival" namens "Rockavaria" erfinden, bei dem man nicht mal campen kann.

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Einschränkungen und Grenzen hat der Münchner beim Erleben gar nicht gern, wobei gerade die ja in dieser Stadt recht ausgeprägt sind. Wer an der Reichenbachbrücke grillt, bekommt Ärger mit der Polizei. Wer kurz vor Mitternacht vor der Kneipe zu laut lacht, Ärger mit den Anwohnern. Sofern ihn nicht schon jemand am Hinausgehen gehindert hat, weil er noch sein Weinglas in der Hand hielt.

Gemeinsam Grenzen überschreiten

München ist eine Stadt voller Ge- und Verbote - daran hat auch der recht erfolgreiche Feldversuch nichts geändert, bei dem man zumindest am Freitag und Samstag länger vor den Kneipen sitzen durfte. Umso schöner fühlt es sich doch an, ausgerechnet in dieser Stadt gemeinsam ab und an Grenzen zu überschreiten, die Regeln zu brechen. Damit etwas Größeres entstehen kann, was kein Event der Welt einfach so herbeiführen kann: echtes Gemeinschaftsgefühl.

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Was im kommenden Jahr dieses Gefühl auslösen soll, ist ungewiss. 2015 gibt es, zumindest auf dem Terminplan der Stadt: nichts Nennenswertes. Außer Peter Maffay in der Olympiahalle, das besagte "Rockavaria" und der Münzenfachmesse. Keine Wahl, keine WM, kein Stadtjubiläum. Aber das Münchner Wir-Gefühl entsteht auch im Kleinen. Wenn es Kulturfrau Zehra Spindler 2015 mit ihrem neuen Projekt "Biebie" wieder gelingt, aus einem leer stehenden Gebäude den spannendsten Zwischennutzungsort des Landes zu machen. Wenn das Atomic Café vielleicht doch nicht schließt und einem der Mann an der Isar, der so unverschämt nahe ans eigene Handtuch gerückt ist, einen Pfirsich schenkt. Den Sieg der Lieblingsmannschaft, den man zu Hause auf der Couch feiert, weil es manchmal genügt, das Fenster offen zu haben und den Jubel von der Kneipe heraufhallen zu hören. Man weiß ja, dass man jederzeit rausgehen und seine Stadt umarmen könnte, wenn man wollte.

© SZ vom 30.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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