Literatur:Gegenspielerinnen ohne Begegnung

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Constanze Neumann erfand zu den bruchstückhaft vorhandenen historischen Fakten ihre Geschichte. (Foto: Mathias Bothor)

Ihren Roman "Wellenflug" lässt Constanze Neumann um ihre eigene Familiengeschichte in der Berliner Belle Époque kreisen. Die Autorin und Leiterin des Aufbau-Verlags liest daraus im Münchner Literaturhaus.

Von Anna Steinbauer, München

Sie wollte eine Geschichte, dort wo es keine mehr gab. Zahlen und Daten reichten der Autorin und Verlegerin Constanze Neumann nicht aus, um sich in ihrer eigenen, weit verzweigten Familiengeschichte zurechtzufinden. Außer ein paar prominenten Namen in der Verwandtschaft wie der Schriftstellerin Judith Kerr und des Bankiers Victor Klemperer waren ihr lediglich ein paar Gräber auf deutschen Friedhöfen und Dokumente geblieben, die sie auf ihrer Internetrecherche fand - Geburts- und Heiratsurkunden sowie Passagierlisten von Schiffen nach Großbritannien, in die USA, nach Brasilien, Indien und Afrika. Deshalb entschied sie sich, eine mögliche Realität entlang der ihr bekannten historischen Fakten dazuzudichten. In ihrem zweiten Roman "Wellenflug" spürt die Leiterin des Berliner Aufbau-Verlags den Spuren ihrer Familie, einer jüdischen Tuchhändlerdynastie im Berlin der Belle Époque nach, deren Geschicke sie durch die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche über die Jahrhundertwende bis in die Weltkriegswirren des 20. Jahrhunderts ins Exil und nach Auschwitz verfolgt.

Im Zentrum stehen zwei Frauenfiguren, wie sie nicht unterschiedlicher sein könnten: Zum einen die wohlhabende Stoffhändlertochter Anna Reichenheim, die nach einigen Schicksalsschlägen schließlich als strenge Matriarchin einer der einflussreichsten Berliner Familien das eiserne Regiment über die riesige Villa nahe dem Tiergarten führt. Der erste Teil des Romans setzt 1864 mit Annas Leipziger Kindheit unter ihrem ehrgeizigen Vater ein, der als assimilierter Jude keinen Wert auf die religiöse Tradition legt und dem es durch kluge Heiratspolitik gelingt, sich in der deutschen Hauptstadt zu etablieren.

Auf die Männer kann in Zeiten von Krieg und beginnender Emanzipation nicht mehr allzu viel gezählt werden

Annas Gegenspielerin, der der zweite Teil des Romans gewidmet ist, ist Marie: Sie stammt aus ärmlichen Verhältnissen und verdient sich ihren Unterhalt als Garderobiere im Berliner Varieté "Wintergarten". Dort lernt diese Heinrich Reichenheim kennen, Annas ältesten Sohn, der sich so manche Eskapade leistet und der Marie später gegen den Willen der Familie heiratet. Heinrich - der unzuverlässige, spielsüchtige und von der Reichenheim-Familie verstoßene Spross - ist der Urgroßvater der Autorin. Durch seine Figur werden die Schicksale der beiden gegensätzlichen Frauen in dem Roman verbunden, die sich niemals treffen. Auf die Männer, so wird im Laufe des Romans deutlich, kann in Zeiten von Krieg und beginnender Emanzipation nicht mehr allzu viel gezählt werden.

"Wellenflug" ist zugleich faszinierende Familienchronik, unterhaltsamer Gesellschaftsroman und treffendes Epochengemälde einer Zeit, in der standesgemäße Herkunft mehr zählt als Blutsverwandtschaft. Nur einmal forciert Marie eine Begegnung mit ihrer Schwiegermutter Anna - es ist eine der bewegendsten Szenen des Buches: Marie möchte Heinrichs Sohn endlich seiner Großmutter vorstellen, doch nach langem Warten werden die beiden schließlich vom Dienstmädchen abgewimmelt. Ein paar Rätsel bleiben für die Nachwelt bestehen: Warum floh Heinrich nicht vor den Nationalsozialisten, sondern blieb bis zu seiner Deportation nach Auschwitz in Deutschland? Die eigene Herkunft bietet oft genügend Spielraum an möglichen Szenarien. Zumindest für die Autorin.

Constanze Neumann: "Wellenflug", Lesung am 26. Januar, 20 Uhr im Literaturhaus München, Salvatorplatz 1, Moderation: Günter Keil, Saal- & Stream-Tickets über literaturhaus-muenchen.de

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