Sicherheit:Dein Postbote und Vertrauter

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Stammzusteller zu werden - früher war das ein Karriereanreiz. Heute wird auch von Postboten Flexibilität verlangt. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Früher kannten Postboten die Nachbarschaft und wussten, wer zum Haus gehört. Mancherorts laufen Versuche, das Verlorengegangene zurückzuholen - und für mehr Zusammengehörigkeitsgefühl zu sorgen.

Von Julian Hans

Es ist nicht leicht, sich einen Briefträger als glücklichen Menschen vorzustellen, gerade jetzt. Die Kälte, die Nachrichten über Lohndumping in der Branche. Aber Markus Esser sagt: "Ich liebe meinen Beruf." Bei Schnee und Eis, bei Regen oder bei Hitze, morgens gegen neun Uhr steigt Esser auf sein gelbes Rad und startet zu seiner Tour durch den Münchner Osten, die Taschen gepackt mit Briefen, Prospekten und Päckchen. Seit 25 Jahren ist er Postbote, seit 15 Jahren auf der selben Strecke.

Zwischendrin hat er auch mal im Innendienst gearbeitet, Briefe sortiert, aber dann hat es ihn wieder auf die Straße gezogen. "Das ist meine Welt", sagt er. Und am meisten schätzt er den Kontakt zu den Münchnern. "Es ist einfach schön, wenn man schon von Weitem begrüßt wird - Hallo, Herr Esser!" Manchmal bitten ihn alte Menschen, ob er ihnen Briefmarken besorgen kann. Das gehört nicht zum Service der Post, Esser macht das dann privat. "Die Oma wirft mir das Geld vom Fenster runter und ich stecke ihr am nächsten Tag die Marken in den Briefkasten."

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Im Zeitalter von Telearbeit und Videokonferenzen sind sie selten geworden: Menschen, die einfach da sind, vor Ort, jeden Tag wenigstens für ein paar Minuten vorbeischauen, und sei es nur, um einen Katalog vom Versandhaus in den Briefkasten zu stecken. Die Bank hat nicht mehr das Gesicht des Schalterbeamten, der die Überweisung annimmt und die Zinsen ins Sparbuch einträgt, sie ist jetzt ein Logo auf einer App. Auf ihrer Website begrüßt einen im besten Fall noch ein Fotomodel, das als Bankmitarbeiter posiert.

Kann es sein, dass die neue Sehnsucht nach Heimat vielleicht nicht nur damit zu tun hat, dass man auf der Straße mehr Menschen begegnet, die anders aussehen, sondern auch damit, dass die vertrauten Gesichter weniger geworden sind? Dass nach und nach Menschen aus dem Alltag verschwunden sind, die einem das Gefühl gegeben haben, in einem sozialen Netz gehalten zu sein? In einem Netz aus echten Menschen, nicht in einem virtuellen. Weil man sich kennt, auch wenn man nicht befreundet ist. Die Verkäuferin am Zeitungskiosk wurde ersetzt durch den Download, der Hausmeister durch den Facility Service, die Buchhändlerin durch einen Algorithmus, der vorschlägt: Käufer, die "Darm mit Charme" kauften, interessierten sich auch für den neuen Sarrazin.

So teilt sich die Welt immer mehr in Familie und Fremde. Das Feld dazwischen dünnt aus. Das betrifft auch den Staat, der sich mit der Privatisierung aus dem Alltag zurückgezogen hat. Der Postbeamte war ein Vertreter einer Behörde, die hoheitliche Aufgaben wahrgenommen hat. In der Frühzeit der deutschen Fernsehunterhaltung war ein Briefträger sogar so etwas wie ein Star. Walter Spahrbier trat in den Shows von Peter Frankenfeld und Wim Thoelke als Glückspostbote auf. Das Postministerium stellte ihn für seine Auftritte frei, weil der gut gelaunte Geldbote mit Dienstmütze und lederner Umhängetasche "ein wünschenswertes Bild des deutschen Beamten" vermittle.

Heute wirft jedes Mal ein anderer Fremder Sendungen ab, und den Staat sehen viele nur noch als "die da oben". Trotz sinkender Kriminalitätsrate fühlen sich die Bürger immer unsicherer. Manche begrüßen es dann, wenn Politiker gegen die Verunsicherung mehr Polizei versprechen. Aber wenn die Polizei alle Lücken füllen soll, die der Wandel reißt, ist das dann hinterher noch dasselbe Land?

Nimmt man's genau, ist Markus Esser nicht Briefträger, sondern Zusteller - so lautet die offizielle Bezeichnung heute. Und sein richtiger Name ist ein anderer, aber er will keinen Ärger mit seinem Arbeitgeber. Die Gewerkschaft Verdi kämpft derzeit dafür, das Stammzustellerprinzip in Freising zu erhalten. Die Deutsche Post AG würde die Mitarbeiter gern flexibler einsetzen. Es gehe darum, ähnlich wie bei den Paketzustellern "die Bezirke künftig noch stärker an die saisonal und wochentäglich schwankenden Sendungsmengen anzupassen", sagt ein Konzernsprecher.

Stammzusteller zu werden, sei früher ein Karriereanreiz gewesen, sagt David Merck von Verdi. Dann seien die Tage planbar und die Abläufe eingespielt. "Der weiß blind, wer wo ist und wie lange es noch dauert", sagt Merck. In Städten wie München finde man schon jetzt kaum noch jemanden, der diesen Job für 13,39 Euro in der Stunde mache. Auf vielen Briefen fehlt die Hausnummer. Der Stammzusteller weiß, wo die Frau Sattler wohnt, der Springer macht einen Stempel drauf: "nicht zu ermitteln". Das sei formal schon korrekt, sagt Esser, "aber wenn einem der Beruf am Herzen liegt, dann tut das schon weh".

Dass die Kunden den Briefträger mit Namen kennen, steht nicht im Bilanzbericht für die Aktionäre der Post AG. Auch nicht, dass sich viele alte Leute zumindest ein bisschen weniger einsam fühlen, wenn einmal am Tag jemand vorbeikommt, den sie kennen. Trickbetrüger nutzen diese Anonymität, wenn sie sich als falsche Handwerker Zutritt verschaffen. Sicherheit lässt sich schwer beziffern, Einsamkeit schon gar nicht. Trotzdem zahlt die Gesellschaft einen Preis, wenn das Zusammengehörigkeitsgefühl verloren geht.

Die Post macht sich schon länger Gedanken, welche Aufgaben ihre Zusteller noch übernehmen könnten, wenn immer weniger Briefe geschrieben werden. In Bremen testet sie gerade das Modell "Post Persönlich". Der Zusteller klingelt und erkundigt sich kurz, wie es Frau Meyer oder Herrn Schmidt geht - gegen einen Aufpreis.

Herbert Kubicek, Professor an der Uni Bremen hat das Programm entwickelt. Erst einmal hat er mit Senioren gesprochen und Ideen gesammelt: Die Postboten könnten Bargeld liefern, Bücher und Hörbücher aus der Bibliothek vorbeibringen - oder Aufgaben von Behörden übernehmen, damit Menschen, die schlecht zu Fuß sind, sich den Weg zum Amt sparen können. Aber solche praktischen Dinge stehen gar nicht an erster Stelle. "Ein großes Problem ist die Einsamkeit, das sagen viele", erzählt Kubicek.

Nur was macht der Postmann, wenn er zweimal klingelt und niemand macht auf? Oder wenn Frau Becker nicht mehr richtig Luft bekommt? Oder Herr Schmidt gestürzt ist? Briefträger sind ja keine Sanitäter oder Pfleger. Also holte Kubicek die Johanniter ins Boot. Deren Hausnotruf-dienst kostet in Bremen 39 Euro im Monat. Wenn der Postbote dreimal die Woche klingelt, kommen noch einmal neun Euro dazu. Wenn er jeden Tag vorbeischauen soll, von Montag bis Samstag, sind es 15 Euro. Vielen ist das zu teuer. Das Modell wird seit Mai in einem Stadtteil getestet und bisher nicht besonders gut angenommen.

Die Politik müsste dafür sorgen, dass die Pflegeversicherung sich an den Kosten beteiligt, sagt Kubicek. "Die Kassen könnten Geld sparen, wenn die Menschen länger selbständig bleiben und später in ein Heim müssen", glaubt er. Aber eine erstattungsfähige "haushaltsnahe Dienstleistung" muss in der Wohnung verrichtet werden, Post-Mitarbeitern ist das Betreten der Wohnung aber verboten.

Die unterschiedlichen Funktionen, die der Postbeamte früher hatte, ohne dass es jemandem groß aufgefallen wäre, haben in der privatwirtschaftlichen Effizienz-Logik jede für sich ihren Preis: 70 Cent für den Standardbrief, etwa ebenso viel für einmal klingeln und "Guten Tag" sagen.

In seinen 25 Jahren auf Tour hat Markus Esser schon öfter der Polizei geholfen. Nicht immer so spektakulär wie damals, als plötzlich mehrere Streifenwagen vor einem Haus standen. "Zwei Kriminaler sind auf mich zu und haben mich gefragt, ob ich den Schlüssel zum Eingang habe." Den hatte er. Dass die Polizei ihn fragt, ob ihm etwas aufgefallen ist, zum Beispiel ob das Auto da schon länger parkt, so etwas kommt öfter vor.

Jetzt in der Weihnachtszeit findet Esser hin und wieder Zettel an den Türen. "Briefträger bitte läuten!" Dann läutet er - und die Kunden stecken ihm einen Umschlag zu. Mal sind fünf Euro drin, mal auch 20. Die Leute haben das Bedürfnis, sich zu bedanken und etwas zurückzugeben. Manchmal ist es auch eine Flasche Wein. Aber mehr als zwei dürfen es nicht sein am Tag, das wir zu schwer auf dem Rad.

© SZ vom 22.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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