Plastikfrei leben in München:Mit Nostalgie die Umwelt schützen

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Brotzeit in gewachsten Baumwolltüchern oder ein Liefer- und Abholdienst für Stoffwindeln: Wer auf Plastik verzichten will, findet in München immer mehr Alternativen - vieles ist altbewährt und fügt sich dennoch gut in den neuen Lifestyle.

Von Franziska Gerlach

Die Idee für den neuen Job kam Max Neisen im Urlaub. Die Cousine seiner Frau wickelte ihr Sandwich aus, Anfang 2018, am Stadtstrand von Brisbane in Australien. Der Münchner, der heute die Firma "Speisekleid" führt, kannte Butterbrote, die in Plastikdosen verwahrt oder von Frischhaltefolie umgeben waren. Dass sich aber ein gewachstes Stück Baumwollstoff dafür eignen sollte, war ihm neu. Cool, dachte er sich. Machen wir auch.

Cool? Ein Ding aus Großmutters Küchenschrank? Schon, findet Neisen. Wenn es optisch was hermache. Der Münchner, der 14 Jahre im Bereich Medizintechnik tätig war, steht in seiner Bürogemeinschaft an der Friedenstraße vor einem Regal mit Bienenwachs aus Bayern. Zwölf bis 15 Kilo sind die Blöcke schwer, die er und seine Frau Uta Neisen, die Pharmazie studiert hat, bei 90 Grad schmelzen und unter Zugabe von Jojobaöl und Harz auf Baumwolltücher mit unterschiedlichen Designs auftragen. Könne man mehrere Monate verwenden, sein Tuch, sagt Neisen. Weil es die Lebensmittel atmen lasse, würden die nicht so schnell verderben. Nur gegen Bakterien von rohem Fleisch oder Fisch komme das Bienenwachs nicht an. Ansonsten leiste es aber "einen guten Hygienejob".

Natürlich macht Neisen sich in diesen Tagen nicht als einziger an die Neuauflage eines Gebrauchsgegenstands, den es früher schon gab - und der nun wiederentdeckt wird, weil er so schön nachhaltig ist. Mit der "Windelei" zum Beispiel bietet Franziska Reif Münchner Eltern seit einigen Monaten einen Service an, der sie wöchentlich mit frischen Stoffwindeln versorgt und die vollen anschließend wieder abholt. Wie's läuft? "Ich habe viel Nachfrage", sagt Reif. Auch Max Neisen berichtet von einem großen Andrang, als er seine Bienenwachstücher neulich auf einer Messe vorgestellt hat. Das Timing für seine Geschäftsidee stimmt einfach: Zufällig begann ungefähr zur selben Zeit, als Max und Uta Neisen ihr Unternehmen gründeten, Greta Thunberg in Schweden mit ihrem Kampf für den Klimaschutz. Und sensibilisierte in der Folge weite Teile der Gesellschaft für eine Rücksichtnahme auf die Umwelt, die inzwischen selbst Grundschulkinder beim Anblick von Plastikbechern mit den Augen rollen lässt.

Dieses erstarkte Umweltbewusstsein trifft auf Großstädter, die sich nicht mehr so recht wohl fühlen in der globalisierten Welt, die sie geschaffen haben. Die Fußgängerzonen mit den immer gleichen Geschäften sind ihnen zu einheitlich, die Popcorn-Softdrink-Menüs der Kinokomplexe zu zuckerhaltig, und die Online-Shops zu schnelllebig, besonders, seit die Nachrichten von den schlechten Produktionsbedingungen in den Textilfabriken Südostasiens die Runde machen.

Da tritt mancher offenbar lieber die Flucht in die Vergangenheit an. Das zumindest legt die Zahl der Münchner Cafés nahe, die ihr Konzept in den vergangenen Jahren an einer heimeligen Nostalgie ausgerichtet haben und neben hausgemachten Apfeltörtchen meist auch Salate im Einweckglas anbieten. Auch bei der Wahl der Gebrauchsgegenstände hängt der Konsument in diesen Tagen dem Glauben an, dass früher vieles besser war. Lässt sich obendrein die Umwelt schonen - wunderbar. Und so werden bereitwillig ein paar Euro mehr in handgetöpferte Müslischalen investiert, im Bad wird die Handwaschlotion im praktischen Spender durch handgesiedete Seife ersetzt, in den Küchen klappern wieder Töpfe aus dem guten, alten Emaille. Und Plastikverpackungen sind natürlich ohnehin verpönt. Waltraud Stitzl und Jutta Esser zum Beispiel machen als Alternative seit Anfang 2018 "Rebeutel", also Stoffbeutel, in denen sich Obst, Gemüse, Nudeln oder auch Brot aufbewahren lassen. Derzeit nähen zwischen zehn und 15 Sozialbetriebe in München und Umgebung die hübschen Beutel. Die Stoffe bekommen sie gespendet: Gardinen eignen sich gut oder weiße Leinenstoffe. Alt? Ausgedient? Diese Adjektive hören die Frauen nicht so gerne. "Die Stoffe sind ja noch gut. Und als Beutel erhalten sie wieder einen neuen Charme", sagt Esser.

Das ist natürlich kein reines Münchner Phänomen. Es ist aber eines, das sich in München gut beobachten lässt: Heidi Triska, Inhaberin des plastikfreien Ladens "Abgefüllt & Unverpackt" an der Fraunhoferstraße, ist aufgefallen, wie gründlich die Münchner alles prüfen, wie sie die Ware in die Hand nehmen, sie nach links drehen, nach rechts, sich nach Inhaltsstoffen und Herkunft erkundigen und ob es recycelbar ist? "Da ist eine Sehnsucht spürbar, etwas gut zu machen", sagt Triska. Und die wiege im Übrigen mehr als die Sehnsucht nach dem Altbewährten, glaubt sie. Auch Franziska Reif von der "Windelei" glaubt nicht, dass es in erster Linie nostalgische Gefühle sind, die Eltern ihren Stoffwindel-Service in Anspruch nehmen lassen. Der Verzicht auf Plastik - im Mülleimer wie an der Haut des Babys - sei als Kriterium entscheidender. Und Max Neisen? Nun, der blickt ein wenig versonnen auf seine Bienenwachstücher, die er ordentlich auf einem Tisch platziert hat. Es gibt sie mit Pusteblumen oder mit grafischen Mustern, für Kinder hat er welche mit possierlichen Tieren. Ein neues Produkt müsse nicht nur einfach und unkompliziert in der Anwendung sein, sagt er, sondern auch "zum Lifestyle" passen. Steckt dann noch ein bisschen Oma drin, kann praktisch nichts mehr schief gehen.

© SZ vom 06.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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