Lieblingsdings:Die Wahrheit der Erinnerung

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Made in Italia: der Schriftsteller Pierre Jarawan und die Schuhe, die er als kleiner Junge trug. (Foto: Catherina Hess)

Der Schriftsteller Pierre Jarawan hängt eigentlich nicht an Gegenständen. Und doch bewahrt er die Babyschuhe auf, mit denen er in Amman seine ersten Schritte getan hat.

Von Sabine Buchwald

Pierre Jarawan bezweifelt, dass Erinnerungen wirklich authentisch sein können. "Selbst wenn man einen Gegenstand hat, der Erinnerungen auslöst, bleiben sie subjektiv", sagt der Schriftsteller. Er ist jemand, der sich gut von Dingen lösen kann. "Vielleicht weil ich ein Geschichtenerzähler bin?", sagt er.

Übers Erinnern und Geschichtenerzählen spricht man mit ihm in einem Schwabinger Café. Er hat sein Büro hier ums Eck. Seit elf Jahren ist Jarawan, 37, in München. Den größeren Teil seines Lebens hat er in Baden-Württemberg verbracht, dort ist er zur Schule gegangen. Geboren aber wurde er in Amman. Aus dieser Zeit stammen die kleinen Schuhe, die Jarawan mitgebracht hat. Dass er sie getragen hat, beweisen die abgewetzten Kappen.

Auf die Frage nach seinem Lieblingsdinfgs hatte Jarawan zunächst geantwortet, dass er eigentlich "überhaupt kein musealer Mensch" sei und kaum etwas aufbewahre. Weiter schreibt er: "Wenn ich von Lesereisen etwas mitbringe, dann bringt meine Frau das auf der Dachkammer in Sicherheit. Nicht, weil mir das nichts bedeuten würde (im Gegenteil!), ich finde oft nur den Akt des Aufbewahrens/Archivierens etwas überflüssig und erinnere mich lieber, gefühlt brauche ich dazu nichts Gegenständliches." Bei einer Tasse Grüntee und einer Butterbreze erzählt Jarawan, dass keine der Urkunden seiner Stipendien, die er bekommen hat, an einer Wand hingen. Auch keiner der Pokale, die er bei Poetry-Slams gewonnen hat, stünden bei ihm im Regal. Dank seiner Frau sind all diese Zeugnisse des Erfolgs sicher im Speicher verwahrt. Da liegen auch das Abi-Abschlussheft und Zeichnungen von Schülern, die das Gemälde aus seinem Buch "Ein Lied für die Vermissten" nachmalen sollten. Doch man hätte sich nicht verabredet mit ihm, gäbe es nicht eben doch etwas, was in Jarawans Alltag sichtbar ist und eine tiefere Bedeutung für ihn hat. Es ist dieses Paar Babyschuhe, das ihm seine Mutter irgendwann gegeben hat.

Außen aus schwarzem, innen aus feinem weißen Leder: Mit diesen Schuhen machte Pierre Jarawan seine ersten Schritte. (Foto: Catherina Hess)

Jarawan holt die Schühchen aus der Jackentasche und stellt sie neben seine Tasse. Sie sind aus schwarzem feinen Leder genäht, auf der dünnen braunen, erstaunlich harten Sohle steht: Made in Italia. Er hat damit wohl seine ersten Schritte getan und ist offensichtlich damit auch über den Boden gerobbt. Erinnern kann er sich nicht daran. Er weiß auch nicht zu sagen, warum er sie aufbewahrt. Damit ein Sohn sie einmal tragen kann? Vielleicht.

Doch nun hat er zwei. Zwillinge. Sie sind 19 Monate alt. Keiner der beiden trägt Jarawans erste Schuhe. Aber sie sind nicht auf dem Dachboden verräumt, sondern stehen im Kinderzimmer. Dieser Ort fühle sich für ihn richtig an, sagt Jarawan. Wohl doch weil sie Symbole für seine ersten Lebensjahre sind, für den libanesischen Teil seiner Familie, der jetzt seine Arbeit beeinflusst.

Mit Pierre Jarawans Romanen reist der Leser gedanklich in den Libanon. Man lernt das Land seines Vaters kennen, das Jarawan als Kind jedes Jahr besucht hat. Man meint, zwischen den Seiten Sesampaste und Pfefferminze zu riechen, wenn die Protagonisten Hummus und Tabbouleh zu Fladenbrot essen. Man folgt ihnen durch die staubigen Straßen Beiruts, und erfährt, was Krieg für die Einwohner bedeutet. In Jarawans erstem Buch "Am Ende bleiben die Zedern" geht es viel um Emotionen wie Liebe und Trauer, die mit der Vergangenheit verbunden sind. Die Handlung hat Jarawan um einen jungen Mann gewoben, der in Deutschland aufgewachsen ist, so wie er selbst. Der dann in den Libanon fliegt mit einem Dia im Gepäck und sich auf die Suche nach seinem Vater macht, der die Familie verlassen hat.

Der Kern einer Erzählung sei für ihn eine vage Erinnerung, sagt Jarawan. Sie lebendig, bunt und nachvollziehbar wirken zu lassen, das ist die Kunst eines Schriftstellers. In "Ein Lied für die Vermissten", stellt Jarawan die philosophische Frage: "Was ist wahrer: die Realität oder die Vorstellung von ihr?" Es geht an dieser Stelle um Gemälde und ihre Darstellung von Landschaften und Städten. "Ist das Bild nicht vielleicht wahrer als die Wirklichkeit, weil es näher am Menschen ist, weil es berührt?", antwortet Jarawan in seinem Roman. Im Café sagt er, für ihn sei ein Gefühl vielleicht wichtiger als die Wahrheit der Erinnerung.

Bei "Lieblingsdings" erzählen Menschen, woran ihr Herz hängt, was sie durchs Leben begleitet, ihnen Glück bringt und wovon sie sich niemals trennen würden.

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