Die Jungs aus 482 überlegen, wie sie Dosenbier aufs Festgelände schmuggeln können. Mel weint vor Glück. Michi hat nachts Hefezopf gebacken, sie konnte vor Aufregung nicht schlafen. Den Bräutigam haben seine Kumpels um halb sechs mit Wiesnliedern aus dem Bett geholt. Und Frau Monschau hofft, dass es nochmal wird wie vor vierzig Jahren. So geht es los.
Es ist noch nicht ganz hell, als Sonderzug MSM 1111 in den Kölner Hauptbahnhof einfährt. Ein älterer Zug, dunkelrot, die ersten Fahrgäste strecken schon die Köpfe aus dem Fenster. Unten am Bahnsteig stehen Grüppchen, Frauen, Männer, einige haben Plastikbecher mit Bier in der Hand. "Lecker Mädsche" steht auf einer Handtasche. Immer wieder hohe Schuhe, jedesmal der Gedanke: wird sie noch bereuen. Eine trägt Sandalen, bei der Ankunft in München wird sie die immer noch tragen, nur dass ihre Zehen dann schwarz sein werden. Es ist der Partyzug zum Oktoberfest. 6.24 Uhr ab Essen, 6.38 Uhr Duisburg, 6.53 Uhr Düsseldorf. Party auf dem Hinweg, Party auf der Wiesn, Party auf dem Heimweg. In Köln steigen die Profis ein.
Vom Reiseleiter gibt es ein blaues Bändchen ums Handgelenk, Abfahrt aus Köln-Hauptbahnhof leicht verzögert um 7.31 Uhr, Durchsage: "Wir wünschen euch eine feucht-fröhliche Fahrt zu den Wiesen!" Dann scheppert Andreas Gabalier durch die Lautsprecher, I sing a Liad für di. Im Abteil liegt eine Plastiktüte bereit, für Müll und alles andere, was man während der Fahrt loswerden muss. Es gibt kein Entkommen, wem um 7.55 Uhr noch nicht nach Olé olé und Schalalalaa ist, der hat Pech gehabt. Andererseits: Wer damit ein Problem hat, fährt halt auch nicht Partyzug.
Die ersten Schritte auf dem Gang, einer der Männer in Tischdecken-Karohemd ruft: "Wo ist der Dirndeeeeel?" Wer nicht Tracht oder wenigstens etwas Ähnliches trägt, fängt sich Kommentare ein.
Wagen 2, Abteil 3 haben Mel und ihre Mädels reserviert. Ausnahmslos Kölnerinnen, ausnahmslos im Dirndl. In ein paar Tagen wird Mel ihren Stephan heiraten, ein echtes Karnevalspaar, Nippeser Bürgerwehr, Appelsinefunke. Davor feiern sie Junggesellinnenabschied, und sie sind ausgerüstet wie wenige. Frikadellen, Schnitzel, Käse, Mettwürstchen, Berliner, Muffins mit Blaubeer und Schoko: "Wir haben alles!" ruft die Braut. Mels Dirndl ist orangekariert, passend zur Farbe ihres Karnevalskorps, dazu trägt sie einen Schleier in orange, orangefarbene Stoffblumen über der Flechtfrisur, riesige Ohrringe. Später wird sie eine Sonnenbrille in Brezenform aufsetzen.
Für alle ist es das erste Mal Oktoberfest, aber sie wissen, wie man feiert. Quer durch das Abteil haben sie eine Girlande gespannt: "Cheers, Bitches". Eine Freundin erzählt: Die Braut wünschte sich eine Feier außerhalb von Köln, dass es nach München geht, erfuhr sie erst am frühen Morgen. "Malle wäre auch geil gewesen." Aber nichts Besonderes mehr, schließlich fährt man da jedes Jahr Pfingsten hin. Deswegen Mels Glückstränen. Die Mädels trinken Colabier, was sie Drecksack nennen. Ihre Strohhalme sehen aus wie kleine Penisse.
Auf dem Gang erklärt unterdessen der Wodka-Mann seine Strategie. Er ist seit vier Uhr wach und in Duisburg eingestiegen. Der Wodka-Mann trägt Trachtenweste, die besitzt er auch für Karneval, am zweiten Tag geht er immer als Bayer. Es ist nicht sein erstes Mal Oktoberfest, aber sein erstes Mal Partyzug. Der Wodka-Mann trinkt ausschließlich Wodka-Energy, Erfolgsrezept, erprobt beim Fußball, bei Malle-Fahrten. Er kalkuliert die Dosierung genau. "Wenn du 24 Stunden unterwegs bist, kannste nicht nach zwei Stunden stralle sein", sagt der Wodka-Mann.
Man muss kein Münchner sein, damit sich das falsch anfühlt. Aber wer hat eigentlich entschieden, dass nur Münchner wissen, wie man die Wiesn zu erleben hat? Dass es hier ein richtig oder falsch gibt? Irgendwann hat man es überwunden, die Karnevalstrachten, die Wieseeen, den Dirndl, überhaupt jeden Gedanken an Vernunft.
8.32 Uhr, Koblenz, Hulapalu. Draußen zieht der Rhein vorbei, Burgen, Schrebergärten, Maisfeld, Atomkraftwerk. Alles egal. Vor dem Fenster könnte der Strand von El Arenal liegen, es könnte Bier- und Hendlmarken vom Himmel regnen - drinnen würde es keinen interessieren. Dieser Zug ist ein eigenes Raum-Zeit-Kontinuum.
80 Euro kostet die Fahrt, mittags will man in München sein, am selben Abend geht es zurück. In der Mitte ist der Partywaggon, da ist am meisten Party. Der Boden klebt. Eigentlich darf man nur hier oder in Abteilen mit spezieller Reservierung rauchen, doch irgendwann ist der ganze Zug vom Geruch nach Zigaretten durchzogen. Das Repertoire des DJs: alles von Karneval über Après-Ski bis Ballermann. Neben ihm steht Geschäftsführer Niko Maedge, er fährt selbst mit, wann immer es geht. Seit 17 Jahren macht er das, es fing mit Partyzügen zu Eishockey-Spielen an. Bei der Wiesn hat er eine Frauenquote von 50 Prozent, darauf ist er stolz. Auch wenn weniger Leute mitfahren, seit es überall Oktoberfest-Kopien gibt. 324 Passagiere sind es heute, nächstes Wochenende sollen es 452 werden. Manchen ist die Fahrt ohnehin wichtiger als das Ziel. "Wir könnten auch im Kreis fahren, Hauptsache Partyzug", sagt Maedge.
Über der Bar spannt sich ein Banner, "Biergarten", ein paar Meter weiter die bayerische Flagge, das 0,33-Bier kostet 2,70 Euro. 11.23 Uhr, Ich bin solo, du bist solo, wir sind solo. 11.28 Uhr, Schwarze Natascha, nur du, süße Natascha, nur du. 12.21 Uhr, zwei kommen sich näher. Küssen sich. Rauchen nebenbei weiter. 12.26 Uhr, Die Dauerparty wird zur Höllenqual, aber scheiß' drauf, Malle ist nur einmal im Jahr.
Gründe, mit dem Partyzug aufs Oktoberfest zu fahren: Junggesellinnenabschied, Junggesellenabschied, Geburtstag, Hormonüberschuss, gab kein Hotel mehr, Hotel war zu teuer, Wiesn ist nur einmal im Jahr.
Um 11.57 Uhr läuft das erste echte Wiesnlied. In München steht ein Hofbräuhaus, doch Freudenhäuser müssen raus, und Mel und die anderen Kölner Mädsche sind erstaunlich textsicher. Singt man auch an Karneval.
Zwei Türen weiter, in Abteil 5, sitzen die Jungs aus 482, gesprochen vierachtzwo. Soll heißen 48231 Warendorf plus die Käffer drum herum, wo man sonst auf Bauernpartys geht oder höchstens mal nach Münster zum Feiern. Jonas, schmal, Hosenträger, 19 Jahre alt, ist mit seinem Kumpel Mats da. Weil Mats ("so wie Hummels") gerade 18 geworden ist, geht es für die Jungs aus 482 heute mal aufs Oktoberfest. Zwei haben die Lederhose von Papa an, die anderen Jeans. Jonas fasst zusammen, wie sie es bisher finden: "Stabil." Mats' Eltern haben den Jungs die Fahrt geschenkt, die Mama hat Lunchpakete für alle gemacht. "Die Frau ist ne zehn von zehn", sagt Jonas. Dosenbierdusche.
Der Partyzug ist wie eine Vollkaskoversicherung. Alle Risiken abgedeckt, Erlebnisse gibt's in jedem Fall. Man kann das nun gezwungen finden, man kann sich aber auch einfach mitreißen lassen und sich ehrlich freuen. Es ist wie im Bierzelt: Irgendwann wirkt's, irgendwann sind alle geerdet und alle eins.
Wer vorbeischaut in Abteil 6, direkt neben den Jungs aus vierachtzwo, trifft die wohl ältesten Partyzug-Passagiere. Maeve Monschau ist 67, trägt ein Trachtenhütchen und hat sie alle angestiftet. Ihren Mann, 70, und die Freundinnen Elke Kramer und Rosi Weidner. Sonst spielt man Scrabble zusammen, feiert Karneval oder geht aufs Winzerfest in Erpel, der Alten Herrlichkeit am Rhein. "Herrlichkeit-erpel.de, können Se nachschauen!"
Frau Monschau hat früher in München gelebt und war oft auf der Wiesn. Vor vierzig Jahren fuhr sie mit Frau Kramer, Herrn Monschaus Vorgänger und dem Kegelverein nochmal, mit einem der Reisebusse, von denen es inzwischen nicht mehr so viele gibt. Jetzt ist sie gespannt, wie es wird. Sie haben Chardonnay dabei, kleine Flaschen, mehr haben sie sich nicht getraut, weil in den Reisehinweisen doch eigentlich steht, dass man keine eigenen Getränke mitbringen soll. Drei Waggons weiter hat ein Junggesellenabschied ein Kölschfass aufgebaut.
Irgendwann klopfen Herr Monschau und Jonas einen Klopfer zusammen. Fürsorgliche Trauzeuginnen und Trauzeugen erinnern daran, auch mal Wasser zu trinken. Der Wodka-Mann kommt gleich wieder vorbei, man riecht ihn schon, bevor man ihn sieht. Es stellt sich heraus, dass so ein Zug gar nicht so praktisch ist zum Trinken, weil er wackelt, und Bier aus Plastikbechern dann gegen die Scheiben schwappt. Der Zug brettert durch einen Tunnel, es donnert in den Ohren, eine Dame um die Fünfzig ruft: "Macht doch mal die Fenster zu, ihr Ottos!"
12.35 Uhr, Stuttgart Hauptbahnhof, Boooom booom booom booom schallt es über Gleis 3. Die Fahrt sollte nicht über Stuttgart gehen, irgendwie ist man doch dort gelandet, angeblich die Schuld der Deutschen Bahn. Darauf können sich alle einigen. Seppelhüte und Selfiesticks hängen aus dem Fenster, Durchsage: "Wir kucken uns Stuttgart an, wie die nicht feiern können!" Und weiter: "Punkt eins, keiner am Bahnsteig wird beworfen, Punkt zwei, es werden überhaupt keine Gegenstände geworfen." Mels Runde wird nervös, sie haben eine Tischreservierung im Schottenhamel-Festzelt, könnte knapp werden. Ein Mann hat einen Lederhosenträger verloren, sein Oberkörper pendelt von der rechten zur linken Zugwand. 12.48 Uhr, der Zug steht, die Luft steht, der Mann schwankt.
Eine Lok muss den Zug wieder aus dem Kopfbahnhof ziehen. Man wird wohl eineinhalb Stunden später ankommen. Den Jungs aus vierachtzwo macht das nichts aus, "weil die Fahrt echt funny ist". Die Leute im Partyzug sind friedliebender und entspannter als bei allen anderen Fahrten, sagt der Lokführer. Er kennt auch solche mit Polizeieinsätzen in Regionalzügen, wenn Fußballfans unterwegs sind.
Auf Höhe Augsburg macht sich das Gerücht breit, jemand hätte aus dem Fenster gekotzt. Kurz vor München bestellt der Wodka-Mann noch einen Wodka-Energy. Nummer zwölf, sagt er, aber sicher ist hier gar nichts mehr. Mels Trauzeugin zweifelt: Ob sie ihre Reservierung noch schaffen?
13.26 Uhr, Hey Baby. Inzwischen kennt jeder jeden. 14.07 Uhr, Geh mal Bier holen, du wirst schon wieder hässlich. Papierfetzen und zertretene Plastikbecher auf dem Boden. Kurz vor Ankunft wird in den Abteilen Deo gesprüht. Alle sehen aus, wie man nach acht Stunden Party eben aussieht.
München Hauptbahnhof, es ist 15.27 Uhr. Mels Runde spurtet aus dem Zug, längst müssten sie im Zelt sein. Erst nach links, halt, dann doch nach rechts. Draußen springen zwei Jungs übermütig auf eine Rikscha auf. Man denkt: Doch nicht die Rikscha, ihr Ottos!
Der Zug wird gereinigt. Der Lokführer geht nicht auf die Wiesn, sondern ins Hotel. Ausruhen. Mel und ihre Freundinnen verschwinden in der Menge, die sich Richtung Theresienwiese schiebt, man wünscht ihnen, dass sie es rechtzeitig schaffen. Und dann kann es losgehen.