Physik der Wiesn:Wie nass wird's in der Wildwasserbahn?

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Physik der Wiesn Spiegelkabinett und Wildwasser (Foto: SZ Grafik/ Dalila Keller)

Dafür ist nicht das Tempo des Boots entscheidend, sondern der Übergang vom Steilen ins Flache. Physiker sprechen vom "Wechselsprung" in der Klothoide.

Von Tom Soyer

Spritziges Wildwasser, das bedeutet normalerweise: Alpen oder Voralpen, ein Taleinschnitt, manchmal mit wildromantischer Schlucht, wie an der Isar, oberhalb von Scharnitz im Karwendel. Und es bedeutet viel Aufwand mit Sicherheitsausrüstung wie Neoprenanzug, Schwimmweste und einem stabilen Kajak beim Abenteuer zwischen den Felsen. Thomas Meyer junior, Schausteller in der fünften Generation, bietet so etwas ähnliches aber auch auf der Wiesn mit seiner Wildwasserbahn: komprimiert auf viereinhalb Minuten Fahrt im Wasserkanal, mit wilden Abfahrten, ohne Schwimmweste und Neopren - und sogar ohne Paddel.

"Wir wollen eine Familienanlage sein, kein Thrill-Ride", sagt Meyer, zugleich Vizepräsident des deutschen Schaustellerbundes, und deswegen können in den 24 Booten auch Oma und Enkel Platz nehmen. Sie dürfen sich nur nicht beschweren, dass sie auf der etwa 500 Meter langen Bahn den einen oder anderen Spritzer oder gar Schwall abbekommen: Für was sonst zapft die Wildwasserbahn insgesamt 600 000 Liter Wasser mit eigenem Standrohr von den Stadtwerken München? Das meiste davon fließt in der Bahn, ein bisschen etwas sprudelt in Springbrunnen und Deko-Wasserfällen. Feinstes Münchner Trinkwasser aus dem Mangfalltal. Passt ja, die Mangfall ist unter Kajakfahrern als leichtes bis mittelschweres Wildwasser sehr geschätzt.

Zugleich ist die insgesamt 400 Tonnen schwere Oktoberfest-Bahn aber in den steilen Abschnitten auch eine Art "hydraulischer Fake", sagen die, die es in ihren Neubiberger Labors wissen müssen: die Ingenieure vom Lehrstuhl für Hydromechanik und Wasserbau der Universität der Bundeswehr München. Denn anders als beim Outdoor-Sport schwimmen die je 350 Kilogramm schweren Glasfiber-Kunststoffboote im Baumstamm-Design gar nicht durchgängig.

In den ebenen Bereichen schwimmen sie in der Strömung der Bahn, aufwärts werden sie mit Gummimatten-Aufzügen hochgezogen, abwärts fahren sie auf Achsen mit Gummirollen, seitlich ebenfalls von solchen Gummirollen in der Bahn geführt. Grund zu Enttäuschung geben diese Nichtschwimm-Passagen mit teils steilem Gefälle natürlich nicht, eher im Gegenteil: Da beschleunigen die bis zu fünf Passagiere in ihrem Boot bis auf Tempo 60 - um unten dann eine ziemlich veritable Bugwelle aufzuwirbeln, beim Übergang in die flache Schwimm-Passage aufzuwirbeln

Ivo Baselt, der wissenschaftliche Laborleiter des Lehrstuhls für Wasserwesen in Neubiberg und promovierter Ingenieur, hat in seiner Versuchshalle zwar keine Wasserbahn, bei der es von 17 Metern Höhe hinuntergeht, aber doch viel heiteres Interesse für die Physik der Wiesn-Wildwasserbahn. Die simuliere recht geschickt jene zwei Zustände, die es bei bewegtem Wasser in einem Gerinne gebe: Da sei der Fließzustand mal "strömend", mal "schießend". Ganz gut vergleichbar mit dem Tempo von Düsenjets, bei denen es die Geschwindigkeitszustände Unterschall und Überschall gebe.

Und so, wie die berühmte Machzahl die Grenze zwischen beiden Zuständen markiert, also das Tempo, an dem es den Überschallknall gibt (Mach 1), gebe es auch für fließende Zustände im Wasser so eine Zahl: die Froude-Zahl, in der Physik mit "Fr" gekennzeichnet. Sie erinnert an die Gebrüder William und Robert Edmund Froude, die im 19. Jahrhundert für die britische Marine an den Gesetzmäßigkeiten für ein stabiles Strömungs- und Fahrverhalten forschten.

Sie ist ein "dimensionsloser Verhältniswert", also eine schlichte Zahl wie auch die Mach-Zahl, und setzt sich zusammen aus dem Quotienten aus der Strömungsgeschwindigkeit und der Wurzel aus dem (Multiplikations-)Produkt von Fallbeschleunigung und Pegelhöhe im Gerinne. Klingt kompliziert, kann Baselt aber veranschaulichen: In ebenen Bahnteilen ergeben sich ruhige Fahrzonen für die Baumstammboote, mit hohem Wasserstand und niedriger Fließgeschwindigkeit (die Froude-Zahl ist da kleiner 1); wird es hingegen steil, sinkt die Höhe des Pegels ab, das Wasser fließt (bei gleicher Durchflussmenge) dafür dann wesentlich rascher ab - die Froude-Zahl ist dann größer 1.

Natürlich knallt es im Wasser nicht, wenn es über die Froude-Zahl-Grenze von 1 geht, das ist relativ unspektakulär (und nur bedingt vergleichbar, weil sich Wasser weniger komprimieren lässt als Luft). Dafür gibt es in der Wasserbahn dann aber Spektakel beim Übergang vom schießenden zum strömenden Zustand. Der heißt bei den Ingenieuren "Wechselsprung"; und wenn er möglichst heftig erfolgt, wenn die Fuhre aus 17 Metern unten wieder ins Wasser saust, dann ergibt sich in Thomas Meyers Wiesn-Wildwasser eine ziemlich sinnliche Erfahrung dessen, was Physiker mit "Wechselsprung" meinen: eine Dusche, zu der laut gejuchzt werden darf.

Wie auch beim Canadier-Paddeln trifft es da aber nicht alle Passagiere gleich. Schausteller Meyer skizziert das grob so, dass man "vorne eher nass" werde. Strömungsexperte Baselt kann das genauer definieren. Zunächst einmal sei wichtig, dass der Übergang der Bahn von etwa 30 Grad auf null Grad Neigung nicht abrupt erfolge, sondern in einer sogenannten vertikalen Klothoide. Also in einer Bauform mit aneinandergereihten, wachsenden oder abnehmenden Radien: ein sanfter Auslauf.

Weil sonst der Aufprall des Bootes auf eine stehende Welle so hart wäre, "dass kein Fahrgast wiederkommt", wie Baselt sagt. Mit Klothoide hingegen "macht das Spaß", und zwar vor allem für die in der zweiten Reihe: "Dort wird man dann von vorne und von der Seite nass", weil das verdrängte Wasser dann auch zur Seite hochgedrückt werde als "sekundärer Seitenschwall". Vorne ist's auch eher feucht, wegen des "Erstschwalls", ganz hinten dagegen bestehen echte Chancen, trocken aus der Viereinhalb-Minuten-Gaudi herauszukommen.

Beeindruckt ist der Uni-Wissenschaftler von dem, was Schausteller Meyer "da alles auffährt". Insbesondere die Dimension und die Wassermenge beeindrucken Baselt. 600 Kubikmeter, das sei schon "ein Hammer". Das entspreche etwa 4000 gefüllten Badewannen und sei deutlich mehr als jene 340 Kubikmeter, die er als Reserve unter seiner Laborhalle in Neubiberg in einem Bassin zur Verfügung hat. Andererseits: Vergleicht man die 600 000 Liter Wasser mit dem Wiesn-Bierkonsum von 2017, ist's schon gar nicht mehr so wild: Im Vergleich zu 7,7 Millionen Mass Bier ist das ein Dreizehntel. Und ohne Schaum, weil von der Mangfall, nicht aus dem Sudhaus.

Ob ein Boot mit einer oder fünf Personen besetzt sei, mache bezüglich des Roll- und Luftwiderstandes auf den steilen Rampen übrigens kaum Geschwindigkeitsunterschied aus, schätzt Baselt. Viel wichtiger sei da stets die hochschwappende Erkenntnis der britischen Gebrüder: "Wenn Fr >1 wird, dann kommt der Spaß!"

In der Serie "Die Physik der Wiesn" analysiert die SZ in loser Folge verschiedene Bestandteile des Oktoberfests nach naturwissenschaftlichen Kriterien.

Gute Wiesn-Gschichten bleiben gut. Dieser Text wurde zuerst am 04. Oktober 2018 veröffentlicht.

© SZ vom 05.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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