Neuperlach:Der Sound der Fahrradkette

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Bloß keine Experimente? Bei diesem Projekt gilt genau das Gegenteil: Junge Menschen fangen Klänge im Viertel ein und kreieren im mobilen Tonstudio aus dem Material Hörbücher oder Reportagen

Von Lea Hruschka

Das Rattern der Fahrradkette ertönt in den Kopfhörern. Marcel Ralle blickt zu Arnav, der an diesem Nachmittag ganz ohne seine Eltern zum Künstler gekommen ist, lauscht den Tönen aufmerksam und lächelt: "Das ist gut für eine Snare Drum." Arnav nickt und führt seinen nächsten Sound vor. Dafür hat er mit einem Stock gegen einen Metallzaun geschlagen - das Ergebnis: ein Klirren, das nun als Kickdrum verwendet wird. Anfangs sitzen die beiden noch konzentriert vor einem Computer und bahnen sich ihren Weg durch die Klänge, die Arnav in der Grünanlage in Neuperlach aufgenommen hat. Ralle gibt Tipps und erklärt das Computer-Programm: "Hier hast du Filter, hier die Tonhöhe." Zusammen entwickeln sie eine Tonspur, deren rhythmisches Trommeln sofort an einen Dschungel erinnert. Später lässt Ralle den Schüler mit den vielen Knöpfen, Reglern und Schaltern auch alleine herumspielen. "Der Sinn ist, dass die Kinder es selbst machen." Arnav probiert, ohne zu zögern, sofort alles aus, von Pitchen bis zum Hall.

Wie man im Container-Studio elektronische Collagen fabriziert, erklärt Colin Djukic (rechts) vom Verein Kultur und Spielraum den Besuchern. (Foto: Florian Peljak)

Das Experimentieren ist der Kern der "15,9 O.S.T. Soundwerkstatt". Deren Herzstück, der blaue Container mit knapp 16 Kubikmetern Innenraum, steht seit diesem Mittwoch in der Grünanlage am Karl-Marx-Ring. Es gehe um "Sound und öffentlichen Raum", erklärt Colin Djukic, der das Projekt des Vereins Kultur und Spielraum leitet. Der Container sei ein mobiles Tonstudio, das das Team in den öffentlichen Raum setze. Dort soll er die Neugierde an elektronischer Klangbearbeitung wecken. Mit Synthesizern, Drum Machines und Computerprogrammen könnten aus der Kreativität der Teilnehmer dann ganze Hörbücher und Reportagen entstehen. Das Material für ihre Aufnahmen finden die Kinder und Jugendlichen in der Neuperlacher Umgebung. An der blauen Außenwand des Containers hängt ein Zettel, der einen ersten Hinweis auf ein mögliches Klangmotiv gibt: "Basketballspieler aufnehmen." Das Pochen des Balls, wenn er auf dem Beton aufprallt, schallt vom Sportplatz herüber. Djukic schickt die Kinder gerne mit solch konkreten Aufgaben los. "Sonst wird es zu diffus." Es verhindere aber nicht, dass die Kinder selbst eigenwillige Ideen umsetzen. "Das Meiste, was man kriegt, sind Furzgeräusche", gibt Djukic lachend zu und zuckt mit den Schultern: "Das höre ich mir dann halt nicht zu Ende an." Wollen Teilnehmer ernsthaft mitmachen, bietet der Container die Ruhe dazu. Das Spannende sei nicht die einzelne "Atmo", meint Djukic, sondern der Kontext, in den die Kinder sie setzen. Ist es in Form von Musik, Hörbuch oder Reportage geschaffen, lädt Djukic das fertige Stück auf die Website, wo alle Werke der vergangenen zwei Jahre zu hören sind. Seit 2019 ist das Projekt an verschiedenen Stationen in der Stadt zu finden. Mit bunt bemalten Ghettoblastern können die jungen Künstler ihre Werke zurück ins Viertel tragen. Die Musikboxen vor einem weißen Zelt ermöglichen sogar Live-Performances.

"Du hast ja alles gelöscht!" Bei so vielen Knöpfen und Tasten kann man schon mal eine falsche erwischen. (Foto: Florian Peljak)

In diesem Zelt finden sich Klappstühle, Bälle und Kleiderstangen. Es ist der "Fahrende Raum", ein anderes mobiles Projekt von Kultur und Spielraum. Schon seit Juni steht er in Neuperlach und wird seitdem von Künstlern besucht, die das veränderbare Zelt verschieden nutzen. "In letzter Zeit haben wir viel genäht", erklärt Vera Brosch, die den "Fahrenden Raum" betreut. Die Kleidungsstücke haben die Kinder dann bei einem Fotoshooting vor einem Green Screen präsentiert. "Es wird immer technischer", sagt Brosch lachend und blickt zu den Tischen, die mit Geräten der Soundwerkstatt-Gäste übersät sind. Sie selbst sitzt zusammen mit drei Mädchen am Maltisch, der eine Ausnahme zum Technik-Wirrwarr darstellt. Noch wirken die Mädchen um Brosch herum nicht, als wollten sie demnächst ihre Stifte fallen lassen, um am Computer Beats zu bauen. Bisher sei der Bereich noch eine "Macker-Domäne", bedauert Djukic. Mit der Künstlerin Kim Twiddle als Gast wolle man kommende Woche auch bei Mädchen und jungen Frauen "die Lust an elektronischer Klangbearbeitung wecken".

Mit Mikrofon und Aufnahmegerät auf der Jagd nach spannenden Tönen: Da kann auch ein Stöckchen, das gegen einen Metallzaun geschlagen wird, spannendes Material sein, findet Leon Ibrahim heraus. (Foto: Florian Peljak)

Ganz begeistert von der Idee ist dagegen bereits Aarusch, der gerade mit seinem Aufnahmegerät vorbeiläuft. Zuerst raschelt er mit Blättern, dann trommelt er mit den Fingern auf dem Tisch und schlägt mit einem Stock gegen eine Metalltür. Auch das Klacken eines Kugelschreibers nimmt er auf. Den schwarzen Schaumstoff des Mikrofons hält er dabei ganz nah an die Klangquelle. Einmal darf sein Bruder Arnav sogar auf das Aufnahmegerät klopfen. Den dumpfen Ton verwendet Aarusch dann als Beat.

Neben ihm sitzt Max Müller und erklärt ihm die vielen Rädchen und Schalter. Eigentlich schreibt der Komponist klassische Partituren. "Für die Soundwerkstatt habe ich bisher nur Post-Produktion gemacht." An diesem Mittwoch ist er zum ersten Mal im Außeneinsatz und hofft, den ein oder anderen länger begleiten zu können. Mit Aarusch hat er vielleicht schon einen bleibenden Schüler gefunden - bisher sei der jeden Tag gekommen, an dem der "Fahrende Raum" im Park war, erzählt er stolz. Dann wandert sein Blick wieder konzentriert zum Bildschirm. Am Nebentisch sitzt Arnav und tippt wirr auf allen möglichen Tasten herum. Marcel Ralle schaut über seine Schulter. "Du hast ja alles gelöscht!" Auch das gehört eben zum Experimentieren dazu.

Die "15,9 O.S.T. Soundwerkstatt ist noch bis Sonntag, 12. September, in der Grünanlage am Karl-Marx-Ring. Kinder ab zehn Jahren können mittwochs, donnerstags, freitags und sonntags von 15 bis 19 Uhr kostenlos und ohne Anmeldung mit der Technik an Ort und Stelle experimentieren.

© SZ vom 28.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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