Klassik:Aufbruch in neue Welten

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Spaß an der Entfesselung: John Storgårds dirigierte am 14. Januar die Münchner Philharmoniker bei der Uraufführung von Fazil Says "Anka Kuşu" , und die Brüder Lucas und Arthur Jussen griffen in die Tasten und Saiten. (Foto: Tobias Hase/mphil)

Die Münchner Philharmoniker wagen sich zum Jahresbeginn an gleich drei Uraufführungen - gebremst werden sie nur durch die starken Einschränkungen bei den Zuschauerzahlen in der Isarphilharmonie.

Von Michael Stallknecht, München

Die Münchner Philharmoniker sind das Orchester, das unter anderem die vierte und die achte Symphonie von Gustav Mahler zur Uraufführung gebracht hat. Doch diese Ruhmestaten sind nun auch schon eine Weile her. Natürlich gab es danach immer wieder Zeitgenössisches. So schenkte mit Wolfgang Rihm einer der bekanntesten Gegenwartskomponisten den Philharmonikern zum 125. Geburtstag seinen "Transitus III". Dennoch gehörten Uraufführungen in den vergangenen Jahren "sicherlich nicht zu den Prioritäten", wie Paul Müller, der Intendant der Münchner Philharmoniker, selbst im Gespräch sagt. Doch daran soll sich nun etwas ändern. Damit man es auch merkt, wagt das Orchester zum Jahresbeginn binnen nur drei Wochen den Aufschlag mit gleich drei großen Neukompositionen. "Neo" heißt das Programm, mittels dessen die Uraufführungstradition sich wie ein Phönix aus der lange nur glimmenden Asche erheben soll.

Phönix - auf Türkisch: Anka Kuşu - heißt denn auch das Werk von Fazil Say, das am vergangenen Freitag den Auftakt machte, ein Konzert für Klavier und Orchester. Genauer: für Klavier zu vier Händen und eine eher kleine, um vier Blasinstrumente und Schlagzeug erweiterte Streicherbesetzung. Am Flügel sitzen Arthur und Lucas Jussen, die beiden holländischen Brüder, für die Say, selbst als Pianist noch bekannter, schon vor einigen Jahren das Stück "Night" komponierte. "Anka Kuşu" integriert, womit Say als Komponist gern arbeitet: orientalische Einflüsse zum einen, U-musikalische zum anderen.

Nach einem breiten Einleitungsthema mit elegischen Glissandi rockt der erste Satz ordentlich los. Im zweiten, einem Scherzo, liefern sich die Jussens einen raschen Phrasenabtausch im Frage-Antwort-Modus, bevor nach einer Kadenz ein fernsüchtiges Thema den Schluss dominiert. Ein bisschen schnell geht der Zwanzigminüter vorüber, weil Say gute Themenideen hat, aber sie vor der ausgiebigen Verarbeitung oft wieder fallen lässt. Dass die Jussens immer wieder in den Flügelkorpus greifen und mit der Hand die Saiten abdämpfen, verstärkt das perkussive Element. Doch wenn Say noch einen richtigen langsamen Satz hinzufügen würde, könnte er über den Kontrast die angestrebte rhythmische Entfesselung nochmal steigern. Spaß bringt das Stück allemal, auch den Musikern, die oft vom Schlagzeug vor sich hergetrieben werden. Das Orchester finde die Neukompositionen spannend, sagt Paul Müller, "weil es dort vollkommen neue Dinge kennenlernt und ausprobieren kann".

Die Viertelbelegung hat bei den Philharmonikern maximalen Schaden hinterlassen

Der angestrebte Geländegewinn auf zeitgenössischem Territorium hat viel mit der zeitgenössischen Architektur zu tun, von der die Philharmoniker neuerdings umgeben sind. Das hippere Ambiente der neuen Isarphilharmonie will man auch mit neuen Formaten besetzen, mit Late-Night-Konzerten etwa oder Grenzgängen zum Jazz und zur elektronischen Musik. Die drei Uraufführungen stammen allesamt von Komponisten, die, so unterschiedlich sie stilistisch sind, keiner hermetischen Avantgarde folgen, sondern mit einem breiteren Publikum kommunizieren wollen. Das gilt für den vor allem im angelsächsischen Raum erfolgreichen Julian Anderson, dessen zweite Symphonie man an diesem Mittwoch vorstellt, ebenso wie für Lera Auerbach, deren neues Cellokonzert Gautier Capuçon Ende des Monats spielen wird. Letzteres wird auch im Jugendkonzert erklingen, um neue Hörer gleich an neue Musik heranzuführen. Um das Stammpublikum nicht zu sehr zu erschrecken, wird sie in den Konzerten mit zugkräftigen symphonischen Klassikern kombiniert. Says Klavierkonzert etwa stellte der finnische Dirigent John Storgårds die "Helios"-Ouvertüre von Carl Nielsen voran, im zweiten Teil sind die beiden letzten, also die sechste und siebte Symphonie von Jean Sibelius zu hören.

Schließlich sollten die Uraufführungen ursprünglich in die Abonnementreihen integriert sein, was mal wieder von den bayerischen Corona-Regeln verhindert wurde. Dabei hatte Paul Müller bereits vorgesorgt und die Abonnements für diese Spielzeit in zwei Hälften aufgeteilt. Nicht damit rechnen konnte er allerdings, dass der bayerische Ministerpräsident die Isarphilharmonie kurz nach ihrer glanzvollen Eröffnung zu einer Viertelbelegung verdammen würde. Bei den Philharmonikern hat es maximalen Schaden hinterlassen, finanziell wie in der Publikumsbindung: Sämtliche Abonnements mussten zurückgezahlt werden, die treuesten Hörer haben immerhin ein Vorkaufsrecht auf Karten. Müller hofft nun, dass das bayerische Kunstministerium in den kommenden Tagen mit der Ankündigung ernstmacht, wenigstens eine fünfzigprozentige Belegung zu erlauben.

Von Vorteil ist deshalb in jedem Fall, dass die frisch komponierten Werke später noch andernorts zu hören sein werden. Wie bei Uraufführungen häufiger praktiziert, wurden sie allesamt von weiteren Orchestern kofinanziert, was Kosten spart und größere Verbreitung sichert. "Nichts ist trauriger", sagt Müller, "als wenn ein zeitgenössisches Werk uraufgeführt wird und danach wieder in der Versenkung verschwindet." In allen drei Fällen haben sich die Philharmoniker aber das Recht der ersten Nacht gesichert. Im Laufe dieser Spielzeit sollen noch ein neues Violinkonzert von Thierry Escaich dazukommen, der bereits bei der Eröffnung der Isarphilharmonie vertreten war, sowie ein neues Musical, das an die Stelle des schon lange erfolgreichen "Ristorante Allegro" treten wird. Irgendwann wird es eben Zeit für Neues. "Das machen wir nicht nur einmal in dieser Saison", verspricht Paul Müller, "sondern wird fortgeführt werden."

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