Münchner Momente:Von Keksen und Konferenzen

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Wie lange noch? Nach einem Jahr Corona sind viele die virtuellen Konferenzen leid. (Foto: Anthony Anex/picture alliance/dpa/KEYSTONE)

Ein Stadtratsmitglied schimpft über Videokonferenzen. So ist es! Aber spätestens 2030 hat das ja ein Ende.

Glosse von Wolfgang Görl

Längst weiß jeder vernünftige Mensch, dass das Internet ein Irrweg ist, der die Menschheit ins Verderben führt. Dieses Digitalzeugs beschert uns ja nicht nur so abscheuliche Sachen wie Shitstorms oder die Webseite der Werteunion, sondern dringt auch unaufhaltsam in unsere Wohnzimmer vor, um sie in Arbeitsplätze zu verwandeln. Okay, in den ersten Lockdown-Wochen hatten Home-Office und Videokonferenzen noch die Aura des wegweisend Innovativen, und außerdem konnte man länger schlafen und im Team-Viewer die geschmacklose Tapete des Chefs betrachten. Allmählich aber verflog der Zauber, und es wurde zunehmend lästig, jeden Morgen die verschlafenen Gesichter der Kolleginnen und Kollegen im Wohnzimmer zu erblicken und mittendrin ein unbekanntes, besonders verknittertes Antlitz, das sich später als das eigene herausstellte.

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Das alles ist furchtbar, aber nie hätte man gewagt, sich mit einer kritischen Anmerkung als digitaler Neandertaler zu outen. Welche Erleichterung, dass sich nun ein Geistesverwandter im Münchner Stadtrat findet. Der Linken-Fraktionsvorsitzende Stefan Jagel hat den wunderbaren Satz formuliert: "Ich merke nach einem Jahr Pandemie, dass mir Videokonferenzen auf den Keks gehen." Ja, so ist es. Spätestens seit der Chef seine geschmacklose Tapete mit der Bücherregal-Attrappe "100 Meisterwerke der Weltliteratur" verstellt hat, ist der Reiz der Videokonferenz auf den Nullpunkt gesunken. Dass die Teilnehmer überdies immer nachlässiger werden und nur unzureichend und manchmal so gut wie gar nicht mehr bekleidet sind, stoppt den Niedergang der Online-Meetings allenfalls vorübergehend.

Nun, es mag uncool klingen, und doch muss es heraus: Er wäre schön, mal wieder mit richtigen Menschen zusammenzusitzen. Falls sich noch jemand erinnert: Es gibt tatsächlich eine analoge Welt, in der analoge Frauen und Männer herumlaufen. In der Regel sehen sie sogar besser aus als ihre virtuellen Abbilder, deren Augenringe und Falten besorgniserregend wirken. Webkameras sind so konstruiert, dass die Menschen möglichst schrecklich aussehen, wovon wiederum Schönheitschirurgen und die Kosmetik-Industrie profitieren, die mit den Kameraherstellern unter einer Decke stecken. Aber dies nur am Rande. Vielleicht im Herbst, spätestens aber 2030 sollen analoge Zusammenkünfte möglich sein. Klar, anfangs wird es peinliche Momente geben, wegen der Tapeten und anderer Fehltritte, doch schon beim Erfahrungsaustausch übers Facelifting kommen wir uns näher. Und eines schönen Tages wird es so sein wie früher: Man sitzt zusammen und geht sich auf den Keks.

© SZ vom 06.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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