Typisch deutsch:Ein Blätterwald aus Blattgold

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Ordnung hielt unser Autor immer für eine eher sinnfreie deutsche Tugend - bis er mit seinem persönlichen Sortiersystem an seine Grenzen stieß. (Foto: Matthias Ferdinand Döring)

Es gab eine Zeit, da belächelte unser Autor die Einheimischen für ihre Sortiersysteme. Solange, bis sich bei ihm die Briefe im Kleiderschrank wiederfanden.

Kolumne von Olaleye Akintola

Der Postbote macht einen wichtigen Job. Bei Regen und Sonnenschein ist er auf seinem Fahrrad unterwegs und verteilt Briefumschläge mit guten und mit schlechten Seiten. Wenn man all die Briefe sammeln würde, bräuchte man einen eigenen Raum dafür.

Wenn die Münchner etwas besitzen, dann ist es die Fähigkeit des Sortierens. Ich selbst war nie ein Papiersammler. Die einzigen wertvollen Dokumente in Nigeria waren meine Zeugnisse und Bücher. Briefe hatte ich so gut wie keine in meinem Archiv. Wer bewahrt im Computerzeitalter noch Papier auf?

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Wer wohl? Der Bayer natürlich. Er ist von seinen Sekretariatskompetenzen überzeugt. Kein Brief ist ihm zu veraltet, er bewahrt Briefe, als handle es sich um Blattgold, und ist ein Meister im Schrei ben und Beantworten von Briefen. Der Bayer geht noch weiter, er widmet einen Teil seiner Behausung allein diesem Zweck. Schreibtisch und Bürostuhl sind meist flankiert von einem großen Schrank, der gut unterteilt ist. Jedes Fach ist mit beschrifteten Ordnern gefüllt.

Die Etiketten befassen sich mit Themen wie Rente, Autoversicherung, Bankkontoauszüge, Hausmiete, Strom- und Wasserrechnungen. So konserviert der Einheimische seine Papiere immer sauber und griffbereit. Wenn ein Beamter oder ein Versicherer nach einem bestimmten Dokument fragt, kann der Bayer mit einem sicheren Griff ins Regal antworten.

Es gab eine Zeit, da belächelte ich die Einheimischen ob dieser Eigenschaft. Doch es dauerte nicht lange, bis ich selbst Briefe empfing, die mir alsbald zu schaffen machten. Ich fühlte mich genötigt, einige Unterlagen in den Kleiderschrank zu quetschen. Als eine Freundin mein Sortiersystem entdeckte, besorgte sie mir Ordner und half mir, jedes Papier zu sichten, zu beschriften und in einem großen Behälter aufzubewahren.

Manchmal, wenn ich ein bestimmtes Dokument benötige, um das mich eine berechtigte Person bittet, lächle ich über meine neu gewonnene Leichtigkeit, ein gut organisiertes Archiv zu haben. Danke auch, dass es in Bayern keine große Präsenz von Kakerlaken, Ratten, Schnecken und Rüsselkäfern gibt, die diese Papiere zerstören. Die Plagegeister, vor denen man gewarnt werden muss, sind hingegen Unbefugte, die den Briefkasten - trotz Warnhinweis - mit Handzetteln, Flyern und Prospekten von Autohäusern, Supermärkten und Politikern vollstopfen.

Übersetzung aus dem Englischen: Korbinian Eisenberger

© SZ vom 07.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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