SZ-Adventskalender:"Es geht an die Substanz"

Lesezeit: 5 min

Und plötzlich fehlt für alles das Geld: Gudrun S. pflegt ihren an Alzheimer erkrankten Mann, kann sich aber den notwendigen behindertengerechten Badumbau nicht leisten. Kay R. bekam ein künstliches Hüftgelenk, braucht aber, um in die Arbeit zu kommen, einen Roller.

Von Monika Maier-Albang

Einige Jahren ist es nun her, dass für Gudrun S. der Lockdown begann. Ihr persönlicher Lockdown. Wann genau das große Vergessen ihren Mann umfing, daran kann die 56-Jährige sich selbst nicht mehr erinnern. Natürlich gibt es dieses Datum, an dem der Betroffene und seine nahen Angehörigen die unfassbare Diagnose bekommen: Alzheimer. Rückblickend fallen einem dann viele Dinge auf, die schon lange nicht mehr so geschmeidig liefen wie gewohnt und man stellt sich die Frage: Hätten wir es früher erkennen können? Bei einem Menschen, der noch nicht mal 60 ist? Und wenn schon: Es ändert ja nichts.

Danach kam die Zeit, in der Wolfgang S. Sätze sagte wie: "Katzen müssen fliegen." Oder: "Unten im Hof werden nachts Leute beerdigt." Einmal saß er auf dem Küchenboden, in einem Kreis aus Messern. Sie haben Jahre hinter sich, erzählt Gudrun S., in denen ihr Mann sich verfolgt fühlte, ins Bezirksklinikum musste, wo mit Medikamenten gegengesteuert wurde. Heute ist das vorbei. Heute liegt Wolfgang S. im Pflegebett in der Mietwohnung, der Fernseher läuft, aber er kann das alles nicht mehr verstehen. Es ist nur eine Abfolge von Bildern und Geräuschen, die ihn zeitweilig zur Ruhe bringen.

SZ-Adventskalender
:Benefizkonzert der BR-Symphoniker im Video

Corona schränkt das Leben zwar ein, Kulturgenuss ist dennoch möglich: Herbert Blomstedt dirigiert das BR-Symphonieorchester. Solistin ist die Sopranistin Julia Lezhneva.

Am Kopf des Bettes steht das Sauerstoffgerät, das seine Frau stets im Auge behalten muss. Wenn ihr Mann wache Stunden hat, schraubt er schon mal daran rum. Und beides, zu viel Sauerstoff wie auch zu wenig, wäre lebensbedrohlich für ihn. Gerade ist Wolfgang S. in einer Klinik, es gehe ihm nicht gut, sagt seine Frau. Aber er erkenne sie, immerhin, habe sie angeschaut, ihre Hand gedrückt. "Ich hole ihn wieder nach Hause. Er soll da sein, so lang es geht. Ich kämpfe für ihn."

Sobald Wolfgang S. wieder daheim sein wird, ist der Tagesablauf seiner Frau auf ihn ausgerichtet. Sie bereitet sein Essen zu, "und dann bettle ich es ihm rein". Sie bringt ihn auf die Toilette, was kaum noch zu schaffen ist. Sie wechselt seine Windeln. Sie hat keinen Ehemann mehr, "dafür jetzt zwei Kinder". Sie versucht, ihn mit Eimer und Waschlappen im Bad zu waschen. Das sei mittlerweile wirklich ein Problem, denn, so schildert es Gudrun S.: Das Bad ist so klein, dass sie kaum zu zweit reinpassen. Und in die Badewanne, gefliest im mittlerweile fast schon wieder angesagten Siebzigerjahre-Türkis, kann ihr Mann nicht mehr steigen. Und selbst wenn er drin wäre: Sie bekäme ihn ja nicht mehr raus.

Gudrun S. hat früher als Krankenschwester gearbeitet. Sie kann ihren Mann versorgen, aber "es geht an die Substanz", das merkt sie längst. Es gibt ja keine Pause, sie schläft nur noch stundenweise, wacht auf, wenn er nachts rumgeistert, bringt ihn wieder zur Ruhe, kontrolliert wieder die Sauerstoffzufuhr. Die Zeitfenster, die sie für sich hat, sind die, wenn sie einkaufen geht oder raus kann mit den beiden Hunden.

Leo heißt der jüngere, er will sofort, dass man sein weiches Knuddelfell durchkrault. Sie hat ihn aus dem Tierheim geholt. "Ja, unvernünftig, ich weiß", räumt Gudrun S. ein, wo eh zu wenig Geld da ist. Aber letztlich sei es doch eine "Win-win-Situation" für beide. Ein festes Zuhause für Leo. Und er ein Seelenhund für seine Menschen, der zu ihr kommt, wenn Gudrun S. an den nun schon so früh dunklen Abenden weinend am Küchentisch sitzt. Er wedelt, schmiegt sich an sie. Und die Kraft reicht wieder für die nächste Nacht. "Wir sind ja nur zu dritt", sagt Gudrun S., und diesmal meint sie die Menschen im Haushalt - sie, ihr Mann und die Tochter. Es gibt keine nahe Verwandtschaft, keine Freunde, die mal helfen könnten. Alexandra, ihre Tochter, ist 23, sie lebt daheim, im Zimmer neben dem Vater. Sie ist Autistin, hat das Asperger Syndrom.

Die ersten Jahre im Gymnasium waren wunderbare, so schildert es die Mutter. Latein, Spanisch, Mathe, überall hatte Alexandra gute Noten. Und die Eltern, beide keine Akademiker, waren stolz auf sie. Dann kam sie in die achte Klasse und hatte, "Knall auf Fall", so S., Panikattacken. "Ich habe sie nicht mehr zur Tür raus gebracht." Alles war plötzlich für die Tochter irritierend, die jede noch so kleine Veränderung wahrnimmt. "Selbst wenn plötzlich Stifte auf dem Küchentisch anders liegen, sieht sie das."

Phasenweise äußerte die Tochter Suizidgedanken, Gudrun S. musste beide auffangen. Gleichzeitig schmolzen die Ersparnisse dahin. Ihr Mann brauchte eine Herzklappen-Operation, sie musste der privaten Krankenversicherung das Geld vorstrecken. Die Tochter gibt sie zu dieser Zeit auf eine Privatschule in der Hoffnung, dass sie dort besser zurechtkommt. "Du machst ein Loch zu und zwei gehen auf."

Am Ende versetzt sie sogar die Eheringe. "Am schlimmsten war der Tag, als ich meiner Tochter die Gurke beim Aldi nicht mehr kaufen konnte." Inzwischen hat Gudrun S. sich Hilfe geholt, die Finanzen sind soweit geklärt. "Es darf nur nichts dazwischenkommen." So wie der behindertengerechte Badumbau, der eigentlich nötig, aber für sie nicht bezahlbar ist. Die staatlichen Zuschüsse reichen bei Weitem nicht. Auch das Auto steht schon eine Weile kaputt vor der Tür, es zu reparieren, dafür fehlt Gudrun S. das Geld.

"Ich bin halt immer hinterhergehinkt"

In einer Bäckereifiliale am Ostfriedhof hat Kay R. sein Glück gefunden - und ein Team, in dem er Wertschätzung erfährt. (Foto: Catherina Hess)

Auch Kay R. kommt mit dem, was er verdient, gerade so hin. Und wie Gudrun S. hat er sich aller Unbill zum Trotz erstaunlichen Optimismus und Tatkraft bewahrt.

Kay R. hatte als Kind Morbus Pertes, eine Durchblutungsstörung in der Hüfte, die dazu führt, dass Knochengewebe abstirbt. Die Folgen spürt er bis heute. Vor allem sein linkes Bein ist nur eingeschränkt belastbar. "Ich hatte als Kind schon immer Schmerzen im Bein", erzählt Kay R., "aber lange wusste man nicht, was es ist". Die Eltern gingen von Kinderarzt zu Kinderarzt, R. erinnert sich an "viele Tests". Erst in der Uniklinik Münster - Kay R. wuchs in der Region auf - wurde die Ursache festgestellt. Der Junge bekam eine sogenannte Thomasschiene zur Entlastung des Hüftgelenks. Was medizinisch wohl geboten war, muss für das Kind eine große emotionale Belastung gewesen sein: "Ich bin halt immer hinterhergehinkt", erzählt R.; er konnte nicht mitspielen, wurde Außenseiter. Und er hatte bis ins Erwachsenenalter diese starken Schmerzen, die er mit Morphinen in den Griff zu bekommen versuchte.

Mit dem Umzug nach München 2001 begann für ihn ein neues Leben. Er bekam ein künstliches Hüftgelenk, ist seither schmerzfrei. Seinen Körper hält er mit Tischtennis, Handball, Schwimmen fit. Er hat sich Arbeit gesucht, zunächst in einem Verlag, heute ist er angestellt in einer Bäckerei. Und wer ihn dort erlebt, gewinnt den Eindruck: Da hat jemand sein Glück gefunden, und ein Team, in dem er Wertschätzung erfährt.

Kay R. kann mit Hingabe über Gärprozesse sprechen, über die Samenarten, die auf die Laugenrose gehören und über die richtige Drehvariante für die Nero-Semmel. Er hat die Frühschicht in der Ihle-Filiale am Ostfriedhof übernommen. Das Problem ist der Weg zur Arbeit. R. würde ihn gern mit dem Rad zurücklegen, aber zwischen seiner Wohnung und der Welfenstraße liegt der Giesinger Berg. Die Steigung macht sein Bein nicht mit. Also nimmt er den Bus, und zwar den letzten um kurz vor zwei in der Nacht. Mit dem ersten am Morgen käme er zu spät zum Dienstbeginn um halb fünf. Und das gehe ja gar nicht, sagt R., um sechs Uhr stehen die Kunden schließlich schon vor der Tür. "Zur Öffnung muss alles fertig sein!" Die Lösung? Ein E-Bike oder ein Roller, der ihm hilft, den Giesinger Berg zu erklimmen.

© SZ vom 05.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: