Wohnungsnot:Ein Entzug ist nur der Anfang

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Jahrelang war Nadine M. abhängig von Medikamenten, heute hat sie den Pillen den Rücken gekehrt. (Foto: Stephan Rumpf)

Viele Suchtkranke sind auch nach der Therapie auf enge Betreuung angewiesen. Nadine M. lebt deswegen in einer sogenannten Therapeutischen WG. Allerdings finden Hilfsorganisationen dafür kaum Wohnraum in der Stadt.

Von Camilla Kohrs

Als Nadine M. die ersten Male durch ihre neue Nachbarschaft in München fuhr, merkte sie sich jede Apotheke, las das Schild jeder Arztpraxis. Stand da "Allgemeinarzt" oder "Urologe", dann prägte sie sich die Adresse ein. "So wie der Alkoholiker gleich Bierflaschen sieht", erklärt sie. Während die heute 39-jährige Mutter das erzählt, sitzt sie in der Küche ihrer Wohngemeinschaft, hinter ihr brummt eine Kaffeemaschine. Nadine M. ist - wie ihre beiden Mitbewohner - suchtkrank, hat einen Entzug hinter sich und will nun "clean" leben. Jahrelang war sie abhängig von dem Arzneistoff Tramadol, einem Opiat. Die Dreizimmerwohnung im Münchner Westen ist keine typische WG, sondern eine "TWG", eine Therapeutische Wohngemeinschaft. Die oberste Regel dort lautet: Es wird nichts konsumiert außer Zigaretten und Kaffee. "Ohne geht's gar ned", sagt Nadine M. und lacht.

Die Stadt finanziert zwar Wohnungen für Menschen, die psychisch krank sind, und für ehemalige Obdachlose, die unter einem Alkoholproblem leiden. Die Behörden bieten aber keinen Wohnraum an für Suchtkranke, die clean leben wollen. Für viele Betroffene ist das ein Problem: Suchtkranken fällt es oft schwer, im ohnehin schon angespannten Wohnungsmarkt in München eine eigene Bleibe zu finden. Wer keinen Arbeitsplatz vorweisen kann und eine problematische Vorgeschichte hat, erhält oft nicht mal eine Antwort auf seine Anfragen. Zudem kommen konventionelle WGs häufig nicht infrage, weil dort Alkohol getrunken wird. Für Süchtige, die gerade Entzug und Therapie hinter sich haben, ist das ein Risiko.

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Vier Jahre ist es nun her, dass Nadine M. einen Entzug gemacht hat. Doch ein Entzug ist nur der Anfang - wie geht es danach weiter? Ein paar Monate verbrachte sie in der Entwöhnung und dann in einer Einrichtung des Deutschen Ordens, einem "Adaptionshaus". Dort absolvieren die Bewohner ein erstes Praktikum, fangen an, Jobs zu suchen, wieder ins Leben zu finden. Eigentlich sollen sie in dieser Zeit auch eine neue Wohnung finden, denn nach Entzug, Entwöhnung und Adaption endet nach rund einem Jahr die Therapie. Doch viele sind dann noch nicht stabil genug, um ihr Leben ohne Hilfe zu bewältigen. Auch für Nadine M. war es zu früh. "Vom Körper her geht's dir vielleicht wieder besser", sagt sie. "Aber du bist noch von allem weg, von den ganzen Alltagproblemchen." Wie viele Suchtkranke, so brach auch sie während der Therapie den Kontakt zu ihrer Familie ab, auch zu ihren Kindern. Um Abstand zu gewinnen, aber auch aus Scham.

Am Anfang, als Nadine M. damit begann, Tramadol zu nehmen, sei alles "höher, schneller, weiter" gewesen - so beschreibt sie heute, etwa zehn Jahre später, die Wirkung des Schmerzmittels, von dem sie viel zu viel geschluckt hat. "Man putzt dann halt nachts Fenster." Bis zu zwölf Ärzte gleichzeitig habe sie damals gehabt, vor allem Allgemeinmediziner und Urologen. Manche hätten ihr 50 Pillen verschrieben, andere auch 100. Damit ihre Sucht nicht auffällt, führte sie eine Liste, bei welchem Arzt sie zuletzt war.

Nadine M.s Körper gewöhnte sich mehr und mehr an den Stoff, verlangte nach einer immer stärkeren Dosis, damit die Wirkung nicht nachlässt. Täglich schluckte sie 15 Tabletten, insgesamt 1500 Milligramm. Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung liegt die maximale therapeutische Dosis bei 400 Milligramm pro Tag. Selbst 15 Pillen reichten Nadine M. bald nicht mehr aus, doch wenn sie mehr nahm, musste sie sich übergeben. Doch irgendwann wirkte Tramadol nicht mehr aufputschend. "Dann kommt der Punkt, an dem du nur noch so dahinvegetierst."

Ob sie rückfällig wird? Sie glaubt nicht - aber sicher weiß das niemand

Heute, viele Jahre später, hat Nadine M. einen Weg gefunden, ihre Sucht als ein Teil von sich zu akzeptieren. Sie erzählt von ihrer Vergangenheit so gut gelaunt, dass man meinen könnte, sie spreche von einem Film, den sie gestern im Fernsehen gesehen hat. Nur wenn sie von ihren Kindern redet, wird ihre Stimme auf einmal leise. "Sie haben es mitgekriegt - viel", sagt sie. "Ist leider so." Mittlerweile könne sie ihre Kinder, die beim Vater in einem anderen Teil von Bayern leben, regelmäßig besuchen. Mit den beiden jüngeren habe sie wieder ein gutes Verhältnis, mit ihrem 18-jährigen Sohn jedoch nicht. Ihre Kinder seien auch der Grund, warum Nadine M. ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will.

Noch am Tag ihrer Entlassung aus dem Adaptionshaus zog Nadine M. in die Therapeutische Wohngemeinschaft. Ihre Betreuerin vom Deutschen Orden, Lara Hüttinger, organisierte ihr einen Platz. Hüttinger ist bis heute eine wichtige Bezugsperson für sie, war dabei, als sie zum ersten Mal nach dem Entzug wieder ihre Kinder traf. Eine Therapeutische Wohngemeinschaft kann dabei helfen, im geschützten Umfeld in einen geregelten Alltag zurückzufinden. Der Deutsche Orden betreibt sechs solcher TWGs in München mit insgesamt 20 Plätzen. Die Bewohner können an Einzel- und Gruppengesprächen teilnehmen, aber auch gemeinsam Ausflüge unternehmen. Oft sitzt Nadine M. einfach nur mit ihren Mitbewohnern in der Küche zusammen und trinkt Kaffee.

Lara Hüttinger vom Deutschen Orden sagt, sie und ihre Kollegen würden das Angebot gern ausbauen, mehr Menschen dabei helfen, clean zu bleiben. Aber nicht nur die Suchtkranken, auch die Organisation hat Probleme, Wohnungen zu finden. Die meisten Vermieter seien nicht gerade erfreut, wenn sie hörten, dass Süchtige dort einziehen sollen, berichtet Hüttinger. Dabei sei die pünktliche Mietzahlung garantiert: Angemietet und bezahlt werde die Wohnung vom Deutschen Orden, an den die Bewohner wiederum ihre Miete zahlen. Auch für die Suchthilfe Condrobs und die Caritas ist es schwer, passenden Wohnraum zu finden. Die Caritas setzt vor allem auf Einzelapartments, damit sich die Bewohner nicht gegenseitig negativ beeinflussen.

Fast jeder, der in eine TWG komme, glaube, dass er ein halbes Jahr später in seine eigene Wohnung umziehe, sagt Nadine M. Doch so schnell gehe das oft nicht. "Mittlerweile sage ich, wenn es noch ein Jahr dauert, dauert es noch ein Jahr." Zugegeben, manchmal störe es sie schon, dass sie kein Radler trinken könne, gerade im Sommer, wenn es heiß ist. Selbst wenn sie unterwegs ist, verzichtet sie auf Alkohol, damit ihre Mitbewohner ihn später nicht riechen - aus Rücksicht auf deren Alkoholkrankheit. Die bringen ja schließlich auch keine Opiate mit nach Hause, sagt Nadine M. Und obwohl sie mittlerweile vier Jahre clean sei, habe sie Angst, was passiert, wenn sie eines Tages allein wohnt. Ob sie rückfällig wird? Sie glaubt nicht. Aber sicher kann sie sich nicht sein.

© SZ vom 10.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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