München:Splitter in Leib und Seele

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Im Hauptstaatsarchiv wirft eine Ausstellung über das Sanitätswesen im Ersten Weltkrieg einen schonungslosen Blick auf die Opfer und ihre heillos überforderten Retter

Von Stefan Mühleisen

Für den Chirurgen Alfred Bauer geht am Freitag, 26. Mai 1916, eine monströse Woche zu Ende. "Das Gehirn dreht sich mir wie im Kreisel, trotzdem es heute ein wenig ruhiger war", versucht er das Unfassbare in Worte zu fassen, das er da im Feldlazarett 6 bei Verdun erlebt. Kaum 900 Mann seien es heute gewesen. Am Mittwoch waren es 1500, eine Armamputation, sieben Kopfaufmeißelungen, mindestens 100 große Verbandswechsel. Tags darauf: 1300 Verwundete, alle Zelte voll, Mann neben Mann, zwei sterben gleich nach der Einlieferung. "Der Krieg zeigte sich von seiner grausigsten Seite", notiert Bauer.

Berührende Relikte: Ein Dreiecktuch mit Gebrauchsanleitung ist nur eines von 150 Exponaten. (Foto: Hauptstaatsarchiv München)

Hier schreibt ein Arzt nicht nur über das Grauen des Ersten Weltkriegs - er lässt auch durchblicken, dass ihn niemand auf diesen Horror vorbereitet hat. Der Bericht ist Teil einer Ausstellung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, die genau das zeigen will: das Leiden der Opfer und ihrer Helfer, jählings der brutalen Dramatik eines Epochenbruchs ausgesetzt. Unter dem Titel "Getroffen - Gerettet - Gezeichnet" fokussiert die Ausstellung den Blick auf das Sanitätswesen im Ersten Weltkrieg. Dort, wo der Krieg sich von seiner schrecklichsten Seite zeigt.

Sanitäter im Fronteinsatz. (Foto: Hauptstaatsarchiv München)

Es ist eine schonungslose Schau, die in Kooperation mit der Sanitätsakademie der Bundeswehr zustande kam. Die Kuratoren beider Institutionen haben sich entschieden, die Besucher dahin mitzunehmen, wo es weh tut: in den Morast der Schützengräben, in die stickige Luft der Lazarette, an die blutverschmierten OP-Tische. "Der Fokus liegt auf dem Schrecken des Krieges und wie die Menschen Verwundung, Leid und Tod erlebt haben", sagt Volker Hartmann, Flottenarzt bei der Sanitätsakademie der Bundeswehr und Co-Kurator der Ausstellung.

Massen an Verwundeten im Lazarett. (Foto: Hauptstaatsarchiv München)

Ein Jahr lang wurden die Bestände gesichtet, an Quellen herrscht kein Mangel: Allein im Hauptstaatsarchiv lagern auf vier Regal-Kilometern Akten der Bayerischen Armee zum Ersten Weltkrieg. Zehntausende Zeugnisse bunkert die Sanitätsakademie. Hartmann hat mit Martina Haggenmüller und Johannes Moosdiele-Hitzler vom Hauptstaatsarchiv aus dem Material das Panorama eines gnadenlosen Kriegskosmos zusammengestellt, in dem die Militärmedizin Übermenschliches zu leisten hatte. Die klug ausgewählten 150 Objekte der Ausstellung fügen sich dabei zu einer tragenden Säule für die These des Historikers Christopher Clark, wonach die europäischen Mächte wie "Schlafwandler" in die Katastrophe taumelten.

Feldgeistlicher Pater Rupert Mayer verlor ein Bein, als er einen Soldaten bergen wollte. (Foto: Hauptstaatsarchiv München)

Die Didaktik setzt auf Haptik, manchmal mit Gänsehautfaktor. In einer Vitrine sind ein Ober- und ein Unterschenkelknochen zu sehen, zerborsten von Granatsplittern, dazu Schädel mit Einschusslöchern - Exponate aus der Wehrpathologischen Lehrsammlung der Sanitätsakademie. Hartmann räumt ein, dass die Präparate zunächst umstritten waren. "Doch wir wollten die Realität zeigen", sagt er.

Es ist eine haarsträubende Wirklichkeit, die mit der Perspektive auf das Sanitätswesen wie durch ein Brennglas deutlich wird: Die Zeitgenossen waren auf das apokalyptische Ausmaß dieses Krieges nicht eingestellt. Zwar hatte das wilhelminische Reich die militärmedizinische Forschung gefördert, wie Hartmann und Mirko Urbatschek in einem Aufsatz im Katalog darlegen. Doch die sanitätsdienstliche Planung ist - ebenso wie die gesamte deutsche Kriegsstrategie - auf einen schnellen Sieg ausgerichtet, nicht auf einen Stellungskrieg, der die Versorgung von Hunderttausenden Verwundeten zur Folge hat - sowie heillos überlastete Mediziner, die sich mit komplizierten Frakturen, nie gesehenen Verstümmelungen und ungeahnt heftigen Wundinfektionen konfrontiert sehen. Überdies muss parallel zu den Kampfhandlungen eine funktionierende Versorgungslogistik erst aufgebaut werden und sich die Einsicht durchsetzen, dass Soldaten mit bunten Uniformen und Pickelhauben quasi schutzlos niedergemäht wurden.

Chirurgisches Instrumentarium zu Zeiten des Ersten Weltkriegs. (Foto: Hauptstaatsarchiv München)

In den feuchten Schützengräben wimmelt es vor Ungeziefer; wegen der mangelnden Hygiene haben die Stellungen mit Rattenplagen zu kämpfen. Solche Fotos zeigt die Ausstellung ebenso wie Aufnahmen von entgeisterten Sanitätern mit Rotkreuzarmbinden, wie sie Kameraden aus der Schusslinie schleppen. Eine original Krankentrage ist zu sehen, dazu ein eiserner, klappbarer Feldoperationstisch nebst OP-Besteck sowie eine Reihe von Überresten, die aus Wunden entfernt wurden: Granatsplitter, Holzteile, Stofffetzen. Das erzeugt bei den Besuchern ebenso Entsetzen wie eine 30 Zentimeter hohe Gasgranate; oder auch ein Gefallenen-Karteikasten aus Pappe mit Hunderten Kärtchen, der allerdings nur Platz für einen winzigen Abschnitt des Alphabets bietet. Daneben: ein großes Foto von einem Gasangriff. Bedrohlich wölbt sich die giftige Wolke über den panisch Fliehenden.

Jene, die dem entfesselten Wahnsinn lebend entkommen, sind allzu oft an Körper und Geist gezeichnet: Nach Kriegsende kehrt ein Heer an Kriegsversehrten - Amputierte, Blinde, psychisch Zerrüttete - in die Heimat zurück, darunter auch der in München wirkende Jesuit Pater Rupert Mayer, der als Feldgeistlicher schwer verwundet wurde, als er einen Soldaten bergen wollte. Die Beinprothese des Paters ist in einer Vitrine ausgestellt. Schon bald sollten in München Tausende bei Kundgebungen etwa am Promenadeplatz gegen die Entlassung von Kriegsinvaliden demonstrieren und staatliche Hilfen verlangen.

Die zivile Verwaltung müht sich, richtet Fürsorgelazarette, Umschulungs- und Beratungszentren ein; 1920 wird das Reichsversorgungsgesetz erlassen. Dennoch: Die Kriegsversehrten fühlen sich von der Politik in der Weimarer Republik im Stich gelassen - was sich als schwärende soziale Wunde herausstellt, welche sich die Nationalsozialisten für ihre spalterische Propaganda zunutze machen. Ein NSDAP-Plakat von 1932 zeigt auf der einen Seite zufriedene Bürger, die in schmucken Siedlungen ihren Lebensabend genießen; auf der anderen Seite darben ausgemergelte Invaliden vor geschlossenen Fabriken.

Was die Heilsversprechen der Nazis wert waren, dokumentieren die Kuratoren an der Krankenakte von Hans H., den der Weltkrieg zum psychisch unheilbar Kranken deformiert hatte. Nach 25 Jahren in der Heil- und Pflegeanstalt Haar wird er am 18. Januar 1940 in eine "Reichsanstalt" gebracht und getötet. Einer von 5000 ehemaligen Frontkämpfern, "die an dem Erlebten im Ersten Weltkrieg zerbrochen waren und dies in der NS-Zeit mit dem Leben bezahlten", wie es im Kommentar des Ausstellungskatalogs heißt.

Die Ausstellung "Getroffen - Gerettet - Gezeichnet. Sanitätswesen im Ersten Weltkrieg" im Hauptstaatsarchiv, Zugang über Ludwigstraße 14, ist bis 30. November täglich außer samstags von 10 bis 18 Uhr geöffnet, am 1. November ist geschlossen. Der Eintritt ist frei. Der Katalog kostet 20 Euro.

© SZ vom 31.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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