Selbsthilfegruppen:Endlich nichts mehr aufschieben

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Wer Menschen mit einem ähnlichen Schicksal sucht, kann sich beim Selbsthilfetag am Samstag am Marienplatz informieren. (Foto: Selbsthilfezentrum München)

In München sind mehr als 1300 Selbsthilfegruppen offiziell registriert. Die einen kämpfen gegen Prokrastination, die anderen arbeiten Missbrauch auf. Sie alle wollen sich durch Austausch gegenseitig helfen.

Von Kathrin Aldenhoff

Pflichten immer wieder aufzuschieben, das hat Andreas fast obdachlos gemacht. "Ich habe es als Freiberuflicher aufgeschoben, Rechnungen zu schreiben. Rechnungen zu zahlen, die Miete zu zahlen. Ich habe meine Wohnung verloren und wäre fast obdachlos geworden", erzählt der 50-Jährige, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte. Prokrastination, das belächeln manche als Studentenkrankheit. Dabei betreffe es längst nicht nur Studenten, sagt er.

Vor dreieinhalb Jahren hat er "Hier & Heute" gegründet, eine Selbsthilfegruppe zum Thema Aufschieben. Einmal die Woche treffen sich bis zu zwölf Leute, tauschen sich aus und verabreden sich manchmal auch, um gemeinsam Papierkram zu erledigen oder weiter an der Doktorarbeit zu schreiben. "Es ist so viel leichter, wenn man es nicht alleine macht", sagt Andreas. Einzige Voraussetzung für eine Teilnahme an der Selbsthilfegruppe: der Wunsch, mit dem Aufschieben aufzuhören.

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Die Datenbank des Selbsthilfezentrums München umfasst rund 1300 Selbsthilfegruppen. Vermutlich gibt es noch mehr, denn die Gruppen müssen sich nicht registrieren lassen. In den sechs Gruppenräumen im Haus an der Westendstraße und zwei weiteren in der Nähe treffen sich jeden Tag zahlreiche Gruppen: der Münchner Club russischsprachiger Wissenschaftler, Menschen mit sozialer Ängstlichkeit, Manisch-Depressive, Väter in Trennungssituationen, Kaufsüchtige.

Einer der Räume ist einmal im Monat für Sophia reserviert. Die 28-Jährige möchte anonym bleiben und wer ihr Anliegen kennt, der versteht das vielleicht. Gemeinsam mit ihrer Schwester hat sie im Herbst vergangenen Jahres eine Selbsthilfegruppe gegründet, für Angehörige von Missbrauchsopfern. Die beiden Kinder ihrer gemeinsamen Schwester wurden sexuell missbraucht. Der Vater der Kinder war der Täter, vor etwas mehr als einem Jahr erzählte das ältere der beiden Kinder der Mutter davon.

"Das war ein sehr großer Schock für uns alle", sagt Sophia. Die junge Frau mit den dunklen Haaren und der Brille erzählt, wie sie für ihre Schwester Anlaufstellen suchte, Informationen. "Mich selbst hat es auch sehr belastet." Sie redete mit Freunden darüber, stieß aber an Grenzen. "Ich habe gemerkt, dass es Themen gibt, die man nicht mit jedem besprechen kann. Ich hatte das Bedürfnis, mich mit Menschen auszutauschen, die Ähnliches erlebt haben." Für Angehörige wie sie gab es kein solches Angebot. Also entschloss sie sich, gemeinsam mit ihrer ältesten Schwester eine Selbsthilfegruppe zu gründen.

Sophia und ihre Schwester sind damit den klassischen Weg gegangen. Sie haben sich selbst geholfen, weil es noch kein Angebot für ihr Anliegen gab. "Viele Selbsthilfegruppen haben Bedarfe aufgezeigt. Vieles ist aus der Selbsthilfe entstanden", sagt Erich Eisenstecken. Er leitet beim Selbsthilfezentrum München den Bereich Soziale Selbsthilfe. Außerdem gibt es den Bereich gesundheitliche Selbsthilfe.

Ob es sich um eine seltene Krankheit handelt oder persönliche Lebensfragen: Selbsthilfegruppen bieten einen geschützten Rahmen, um sich auszutauschen. (Foto: Selbsthilfezentrum München)

Mit der Gesundheit habe es angefangen, sagt Eisenstecken. Oder besser gesagt, mit der Krankheit. Er nennt ein Beispiel: Aids. Betroffene organisierten sich in Selbsthilfegruppen, tauschten sich aus. Sie erlebten, dass andere mit den gleichen Problemen kämpften wie sie selbst. Sie schufen Beratungsstellen und Netzwerke. Und über die Jahre habe sich das institutionalisiert und professionalisiert, sagt Eisenstecken. Ein Bereich, in dem der Austausch unter Betroffenen besonders wichtig sei, seien die seltenen Krankheiten, sagt er. Eben weil sie so wenig bekannt sind.

Ein Treffen der Prokrastinationsgruppe läuft immer gleich ab, in zwei Phasen. Zuerst kann jeder sprechen, so lange er möchte und ohne dass andere dazwischenreden, das Gesagte kommentieren oder diskutieren. Wer nicht will, muss aber nicht reden. Im zweiten Teil gehe es dann darum, ins Handeln zu kommen, sagt Andreas. Wer will, kann sich selbst ein Ziel setzen, das er bis zum nächsten Treffen erledigt haben möchte. Das wird dann besprochen - "von Menschen, die nicht den Stab über einen brechen", wie er sagt.

Über Missbrauch sollte man sprechen

"Ein Problem von Prokrastinierern ist, dass sie sich zu viel vornehmen", sagt er. Auch wenn Außenstehende oft Faulheit unterstellen. Dabei werden nicht nur unangenehme Sachen aufgeschoben, erzählt er. Er habe seinen Studienabschluss prokrastiniert, andere schieben es auf, Schlafen zu gehen oder Kontakt mit Freunden und Bekannten zu halten. Es sei wichtig zu erkennen, dass man nicht alles aufschiebt. "Es gibt immer wieder Dinge, die andere aufschieben, man selbst aber nicht. Die Prokrastination bezieht sich eigentlich nie aufs ganze Leben."

Die Idee der Selbsthilfegruppen kommt aus den USA, am bekanntesten sind vermutlich die Anonymen Alkoholiker mit ihrem Zwölfschritteprogramm. Ende der Siebzigerjahre habe die Selbsthilfe dann in Deutschland einen Boom erlebt, sagt Erich Eisenstecken vom Selbsthilfezentrum München. Diese wurde 1985 als Beratungsstelle für Gruppen und Initiativen gegründet, finanziert wird es von der Stadt München und den gesetzlichen Krankenkassen.

Inzwischen seien nicht mehr nur die direkt Betroffenen organisiert, sondern auch die Angehörigen, sagt Eisenstecken. So wie Sophia. Bisher haben sich drei Angehörige von Missbrauchsopfern bei ihr und ihrer Schwester gemeldet. Die Frauen haben sich bei den Treffen ihre Geschichten erzählt, ihre Erfahrungen ausgetauscht. Zu einem weiteren Treffen kam es bisher nicht. Sophia findet das nicht schlimm. "Ich habe am Anfang gedacht, es würde guttun, sich regelmäßig, alle zwei Wochen, auszutauschen. Aber es ist so ein schweres Thema und es gibt nicht viel Veränderung. Vielleicht reicht es auch, sich alle zwei bis drei Monate zu treffen." Sophia hofft, dass sie mit der Selbsthilfegruppe dazu beitragen kann, dass die Menschen merken, dass Missbrauch ein Thema ist, über das man sprechen sollte. "Das Thema wird totgeschwiegen, und das ist ein Problem. Denn damit ist keinem geholfen."

Wer Interesse hat, an einem Treffen einer der Selbsthilfegruppen teilzunehmen, kann beim Selbsthilfezentrum München Termine und Kontaktdaten erfragen. Telefon 089 / 53 29 56 - 11, www.shz-muenchen.de.

© SZ vom 04.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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