Eine urbane Hopfenplantage passt natürlich gut in die Biermetropole. Der eigentliche Grund, warum an einer Hinterhoffassade an der Schwanthalerstraße demnächst die Dolden reifen, liegt aber nicht in der Würze, sondern im schnellen Wuchs: Bis zu zehn Zentimeter pro Tag schaffen die Ranken - schnell genug, um die kahle Wand noch im Sommer im Rahmen einer kurzen, aber kreativen und vielfältigen Zwischennutzung zu begrünen.
Das denkmalgeschützte Gebäude an der Schwanthalerstraße 57 wurde vor 110 Jahren vom Reifenhersteller Continental gebaut. Später zog hier das Fernmeldeamt ein, anschließend, bis 2016, die Sabel-Wirtschaftsschulen. Der Starnberger Immobilienentwickler Ehret + Klein hat sich hier und im östlichen Nachbarbau Nummer 55 Ende 2021 eingekauft und plant Büros, Handel, Gastronomie und Kleinhandwerk. Die große Variante einer frisch eingereichten Bauvoranfrage bezieht außerdem das Nachbarhaus Nummer 53 mit ein, wo Wohnungen entstehen könnten.
Falls die Lokalbaukommission zügig grünes Licht gibt, bleibt wohl nur bis Ende 2022, Anfang 2023 Zeit für die Interimsnutzung. Die hat einen branchenüblich anspielungsreichen Namen bekommen: "Franzi", bezieht sich, gegendert, auf Franz Marc. Der große Expressionist verbrachte im Haus Nummer 55 einen Teil seiner Jugend, woran eine Gedenktafel erinnert. Unter dem Label agieren hier die mit der Hopfenwand und weiteren Begrünungsideen beteiligten Experten von Green City zusammen mit der Initiative FreiRaum-Viertel und der Gruppe broke.today.
Auch an anderen Orten in München waren die Kreativnomaden aktiv
Das Künstlerkollektiv zieht aus der Maschinenhalle des Schwabinger Krankenhauses hierher um, die demnächst, ebenfalls von Ehret + Klein, zu Bürolofts umgebaut wird. Davor haben die Kreativ-Nomaden unter anderem in der Kaufinger-Tor-Passage gearbeitet und in der Steinheilstraße in der Maxvorstadt. Ihr dortiges Kurzzeit-Domizil tauften sie "Traphouse", was sich in etwa mit "Drogenloch" übersetzen ließe.
Nun wäre Konsum oder gar Handel mit illegalen Substanzen in einem offiziellen Zwischennutzungs-Bau sicher keine gute Idee gewesen - der Name spielt eher ironisch mit der Ästhetik einer Szene, die ja gern etwas kaputter tut, als sie wirklich ist. Und vielleicht auch ein wenig damit, dass nicht alle Graffiti-Künstler der Gruppe immer auf ganz legalem Boden unterwegs waren. Sprayer gehören zwar zum harten Kern, längst finden sich bei broke.today aber Kreative aller Richtungen, vom Bildhauer über den Kunsthandwerker oder die Modedesignerin bis zum Fotografen, auch Autoren sind willkommen.
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Gemeinsam haben die Künstler, dass sie, wie "broke.today", also "heute pleite" schon sagt, (noch) nicht zu den Großverdienern ihrer Genres gehören und kostenlose Arbeitsräume mehr als gut gebrauchen können. Eine kreative Startbasis für "junge Leute, die noch keine Vita, keine Vergangenheit, kein Atelier haben", beschreibt Fillin Guas die Idee, einer der Gründer der Gruppe und so etwas wie deren Immobilien-Scout, immer schon auf der Suche nach dem nächsten leer stehenden Gebäude und nach kooperativen Eigentümern.
Die haben sich bis jetzt immer gefunden. Trotzdem würden sich die Künstler über Hilfe durch einen städtischen Zwischennutzungsbeauftragten freuen. Noch besser wären freilich Räume, die die Stadt direkt bereit stellt, vielleicht für vier oder fünf Jahre. Einstweilen richtet man sich eben für ein paar Monate häuslich ein. Gerade zimmern Guas und sein Kollege Daniele Faggiotto im Obergeschoß eine Bar fürs Gemeinschaftsatelier. Zwar nicht rund um die Uhr, aber bei möglichst vielen Ausstellungen ist das Haus für Besucher offen, Details finden sich auf dem Instagram-Kanal der Gruppe.
Unterm Atelier bauen die "FreiRaum"-Aktiven derweil Stadtmöbel, mit denen sie im vergangenen Sommer bereits die Landwehrstraße wohnlicher gemacht haben - alles aus Altholz, versteht sich. Überhaupt ist "Upcycling" oberstes Prinzip. Alles, was hier an Möbeln steht, ist vor dem Sperrmüll gerettet worden, selbst, wenn es hin und wieder einfacher oder sogar billiger wäre, zum schwedischen Möbelhaus zu fahren, wie Marco Eisenack sagt, der die Zwischennutzung koordiniert.
Mit einer lokalen Denkwerkstatt ("QuartiersLab") geht "Franzi" ab 10. Mai an die Öffentlichkeit. Es folgen Ausstellungen, Diskussionsveranstaltungen und vieles mehr. Am 22. Juli nimmt das Projekt auch an den Hofflohmärkten teil.