Patenprogramm bei Multipler Sklerose:Eine Diagnose, die Patienten erschreckt

Lesezeit: 3 min

Nadja Birkenbach hat wieder Lebensmut gefunden und gibt diesen an andere Erkrankte weiter. (Foto: Stephan Rumpf)

Am Klinikum rechts der Isar helfen erfahrene Multiple-Sklerose-Patienten anderen mit gerade festgestellter Erkrankung - diese Paten können viele Ängste und Sorgen aus eigenem Erleben zerstreuen.

Von Stephan Handel

Das Datum hat sich eingebrannt: "21. September 2015, 9 Uhr", sagt Nadja Birkenbach. "Ein Montag." Das war der Tag, der ihr Leben veränderte - der ihre Welt zuerst einstürzen ließ, aus dem sie aber dann stärker, bewusster, offener wieder herausfand. An diesem Tag vor inzwischen mehr als sieben Jahren sagte ihr ein Arzt im Krankenhaus rechts der Isar, was los ist mit ihr. Zwei Worte nur, aber die reichten: Multiple Sklerose.

Sieben Jahre nach diesem schicksalhaften Tag sitzt Nadja Birkenbach gut gelaunt beim Interview. Auf die große Krise ihres Lebens schaut sie mit Respekt zurück - aber ohne Angst. Aus der Erinnerung ist vor einiger Zeit eine Idee entstanden, die sukzessive zum Erfolg wird: Erfahrene MS-Patienten kümmern sich um Patienten mit frischer Diagnose. Denn Nadja Birkenbach weiß: Die haben die gleichen Fragen, Sorgen, Ängste wie sie damals - und bekommen von den Ärzten selten befriedigende Antworten. Deshalb kümmern sich die MS-Paten um alles, was ihre Schützlinge über den medizinischen Teil hinaus bewegt.

Newsletter abonnieren
:München heute

Neues aus München, Freizeit-Tipps und alles, was die Stadt bewegt im kostenlosen Newsletter - von Sonntag bis Freitag. Kostenlos anmelden.

Bei Nadja Birkenbach begann alles mit den Augen. Auch wenn sie heute meint, dass manches Kribbel- und Taubheitsgefühl schon viel früher ein Symptom der Krankheit gewesen sein könnte, das sie aber nicht ernst nahm. Aber plötzlich sah sie Doppel- und Wackelbilder, konnte nicht mehr Auto fahren, musste beim Gehen vorsichtig sein. Eine Freundin, Optikerin von Beruf, verschaffte ihr einen Termin bei einer Augenärztin. "Die wusste gleich, was los ist", sagt Birkenbach. "Gesagt hat sie aber nur, dass ich zum Neurologen muss." Praktischerweise lag das Krankenhaus rechts der Isar gleich über die Straße, "dann haben die mich erst einmal auf links gedreht". Will heißen: von Kopf bis Fuß untersucht, bis die Diagnose feststand.

Die meisten Menschen haben bei der Multiplen Sklerose Bilder vor sich von Patienten, die im Rollstuhl sitzen, die sich nicht mehr selbständig versorgen können, die schwer behindert sind. So ist es aber beileibe nicht - zwar ist die Krankheit nicht heilbar, durch Medikamente und andere Therapien ist es aber möglich, dass die Menschen für sehr lange Zeit ein fast völlig normales Leben führen.

"Ich habe überlegt, ob ich noch in der Lage sein werde, meine Kinder großzuziehen."

Aber das wusste Nadja Birkenbach damals noch nicht: "Ich sah mich schon im Rollstuhl sitzen, habe überlegt, ob wir das Schlafzimmer zu Hause ins Erdgeschoss verlegen müssen. Ob ich noch in der Lage sein werde, meine Kinder großzuziehen." Zunächst aber begann eine Odyssee durch das Angebot der Pharma-Industrie - zunächst mit täglichen Spritzen, dann mit verschiedenen Tabletten, alles brachte nicht den gewünschten Erfolg. Schließlich sagte sie ihrem Arzt, dass sie es ohne Medikamente versuchen wolle. Der war zwar nicht begeistert, aber ließ es zu.

Und es dauerte kein Dreivierteljahr, da rutschte sie in den nächsten Schub. Diesmal war das linke Bein betroffen, es kribbelte und war taub, so dass sie sich schließlich doch überzeugen ließ, es noch einmal mit Tabletten zu versuchen - diesmal mit Erfolg: Seit 2018 ist sie schub-frei und, so sagt sie, zufriedener denn je: Sie ernährt sich gesünder, macht mehr Sport, hat ihren stressigen Marketing-Job aufgegeben und arbeitet, mittlerweile 47 Jahre alt, jetzt im Sekretariat ihres Golfclubs.

Aber auch das hat sie mittlerweile reduziert - denn ihr Patenprogramm fordert viel Einsatz. Die Idee kam ihr, als sie mal wieder im "Rechts der Isar" war, sie nimmt dort an einer Langzeit-Studie zur MS teil. Als sie nach den Untersuchungen das Haus verlassen wollte, sprach eine junge Frau sie an: Sie habe sie gerade gesehen im MS-Zentrum, ob sie kurz mit ihr reden könne? Es stellte sich heraus, dass die junge Frau frisch mit MS diagnostiziert worden war - "und dass sie exakt die gleichen Fragen umtrieben wie mich damals". Daraus entstand innerhalb wenige Tage die Idee, ein Paten-System zu installieren, in dem erfahrene MS-Patienten neuen Leidensgenossen zur Seite stehen.

Bernhard Hemmer, der Direktor der Klinik für Neurologie am "Rechts der Isar", war von der Idee begeistert und hilft seitdem, die Paten und ihre Schützlinge zusammenzubringen: Die ersteren melden sich bei Nadja Birkenbach, sie überlegt dann mit den behandelnden Ärzten, wer zu wem am besten passen könnte. Mittlerweile sind zehn Patenschaften vermittelt, alles ist noch im Werden, ein Leitfaden für die Paten wird gerade erstellt. Noch ist alles auf Patienten im "Rechts der Isar" beschränkt. Dort hat vor wenigen Wochen der Spatenstich für den Neubau eines MS-Zentrums stattgefunden. "Der Vertrag dafür wurde 2015 zwei Tage nach meiner Diagnose unterschrieben", sagt Nadja Birkenbach. "Sieben Jahre später der Spatenstich. Und wenn das Zentrum 2025 eröffnet - dann habe ich mein Zehnjähriges."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusDemenz
:"Alzheimer ist ein Marathonlauf, kein Sprint"

Bis heute gilt Alzheimer als unheilbar. Aber wie steht es um Therapie-Möglichkeiten? Chefarzt Jens Benninghoff über die Ursache der Krankheit und ein noch nicht zugelassenes Medikament.

Interview von Sophia Goldner

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: