Seelische Krisen:Jedes Klingeln ein Hilfeschrei

Lesezeit: 4 min

Zuhören, deeskalieren: Eine geschulte Mitarbeiterin versucht am Telefon, die Lage einzuschätzen und den Betroffenen zu beruhigen. (Foto: Psychiatrischer Krisendienst Oberbayern)

Rund um die Uhr können Menschen in einer seelischen Notlage in der Leitstelle des Psychiatrischen Krisendiensts Oberbayern anrufen. Bei akuten Problemen macht ein mobiles Team auch Hausbesuche.

Von Nicole Graner

Das Telefon klingelt. Und dieses Klingeln ist ein Hilfeschrei. Der Notruf eines Menschen, der nicht weiter weiß, verzweifelt ist, mutlos, voller Angst. Wenn es klingelt - besonders oft nach dem Wochenende - dann wissen die 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Leitstelle des Psychiatrischen Krisendienstes Oberbayern: Jetzt hilft vor allem eines - zuhören, beruhigen, deeskalieren.

Seit fünf Jahren gibt es den Krisendienst, der von Psychologen und geschulten psychiatrischen Fachkräften betreut wird. Rund 130 000 Mal läutete in dieser Zeit das Telefon. Rund um die Uhr. Die Münchner Leitstelle, in der alle Anrufe eingehen, gleicht einem ganz normalen Büro. Nüchtern, weiße Wände, grauer Teppichboden. Wenig Bilder. An einer Wand hängt dafür eine Karte der Regionen Oberbayerns. Rot leuchtende Birnchen signalisieren alle sozialpsychiatrischen Dienste, grüne die Standorte von Kliniken und orangefarbene markieren die Standorte aller Abend-, Wochen und Feiertagskräfte. Hinter Glastüren sind leise Stimmen zu hören. Hinter einer von ihnen sitzt Michael Welschehold, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und stellvertretender ärztlicher Leiter des Krisendienstes. Er hat maßgeblich daran mitgewirkt, dass es dieses Hilfsangebot überhaupt gibt.

Will den Krisendienst weiter vernetzen: Michael Welschehold, stellvertretender ärztlicher Leiter. (Foto: Psychiatrischer Krisendienst Oberbayern)

Auslöser, sich dafür einzusetzen, dass mit dem psychiatrischen Krisendienst ein niederschwelliges Angebot entsteht, habe es viele gegeben. Die von einer Expertenkommission im Oktober 1975 vorgelegte Leitlinie zur Reform der Psychiatrie, die sogenannte Psychiatrie-Enquete, habe aufgezeigt, wie "institutionsorientiert" die Situation in Deutschland gewesen sei. Was für Welschehold heißt: Zu viele Menschen seien in akuten Situationen sofort in ein Krankenhaus gebracht worden. "Herzlich wenig hat man darüber nachgedacht, wie die individuelle Situation des Klienten aussieht, wie man helfen kann, ohne ihn von einem Moment auf den nächsten aus dem Leben zu reißen." Diese Starrheit des Systems zu durchbrechen und den Leitsatz "ambulant vor stationär" umzusetzen, sei ihm als Arzt das Wichtigste gewesen.

Welschehold entwickelte mit Kollegen Konzepte, überlegte, wie individuelle, ambulante Hilfe aussehen kann. Es wurde viel politisch diskutiert. Sehr lange. Bis es endlich ein erstes Krisenangebot als Modellversuch im Bezirkskrankenhaus Haar gab. Ein Telefon auf dem Schreibtisch, das von verschiedenen Ärzten besetzt war - damit fing alles an. Später gab es dann das Psychiatrische Krisen- und Behandlungszentrum Atriumhaus in der Bavariastraße. Schnell habe man aber gemerkt, dass nicht nur Menschen aus dem Einzugsgebiet München Hilfe suchen, sondern aus ganz Oberbayern, sagt Welschehold. 2016 dann wurde der Krisendienst gegründet, der sich seitdem um Fälle wie diese kümmert.

Newsletter abonnieren
:München heute

Neues aus München, Freizeit-Tipps und alles, was die Stadt bewegt im kostenlosen Newsletter - von Sonntag bis Freitag. Kostenlos anmelden.

Fallbeispiel eins. Es klingelt. Eine Mutter ruft verzweifelt an. Seit Wochen hat sich der Sohn zurückgezogen, will nicht in die Schule. Will nicht sprechen, keinen Kontakt. Mit niemandem. Die Nerven liegen blank. Die Geschwister sind verunsichert. Die Eltern. Die Sorge um das Kind ist sehr groß. Die Situation lässt sich nicht am Telefon klären, also macht ein mobiles Einsatzteam einen Hausbesuch. In knapp 70 Prozent der Fälle kann per Telefon Hilfe geleistet werden, für circa 20 Prozent sind Hausbesuche nötig. 10000 waren es in den vergangenen fünf Jahren. Zu zweit zieht das Team los, versucht, in einer Sunde bei der Familie zu sein.

Dem Klienten auf Augenhöhe zu begegnen, ist extrem wichtig

"Viele Angehörige rufen an", berichtet Natalja Ferroni. Die 31-Jährige ist seit sieben Jahren beim Krisendienst und für die aufsuchenden Teams in der Stadt verantwortlich. Vor Ort versuche man als Erstes zu beruhigen und die Lage zu sondieren. Vielleicht sind zu viele Personen involviert, vielleicht muss man auch die Situation entzerren, zum Beispiel die Kinder herausnehmen. Und dann herausbekommen, was passiert ist, was der Auslöser für die akute Situation war, was der "Kern des Moments" ist, wie es Michael Welschehold nennt. "Wir diagnostizieren nicht", sagt Ferroni, "aber wir bringen Entspannung und viel Zeit mit." Aufrichtigkeit, also dem Klienten auf Augenhöhe zu begegnen, sei dabei extrem wichtig. "Wir verhalten uns als Gast, sind zurückhaltend, differenzieren, wer der Anrufer, wer der Betroffene ist - und mit wem es Sinn macht, zu sprechen." In Ruhe werden dann schrittweise Veränderungen überlegt. An die 1000 Mitarbeiter gibt es im aufsuchenden Dienst in Oberbayern.

Fallbeispiel zwei. Ein Mann hat Wahnvorstellungen. Er hört Stimmen. Er wählt selbst die Nummer 0800/6553000. Und sagt: "Ich kann nicht mehr", diesen Satz hören die Mitarbeiter des Krisendienstes oft. Am Telefon, vor Ort. "Diese Erkenntnis, dass man Hilfe braucht und diese Hilfe zulässt, ist ein ganz wichtiger Schritt", sagt Welschehold. Wichtig sei, diese Erkenntnis des Betroffenen behutsam zu lenken, auch herauszufinden, ob eine suizidale Gefährdung besteht. Zusammen mit der Leitstelle überlegt das Krisenteam dann, ob ein Klinikaufenthalt richtig ist und dem Betroffenen gut tut. Wenn es sein muss, geht das mobile Team diesen Weg mit. Packt zusammen mit dem Betroffenen die nötigen Sachen, begleitet ihn auf der Fahrt in die Klinik. "Damit diese kein zusätzliches Trauma wird", sagt der 66-jährige Facharzt.

Brand in Ottobrunn
:Viele Fragen und ein schlimmer Verdacht

Die Polizei geht davon aus, dass der zunächst vermisste 59-jährige Hausbewohner den explosionsartigen Brand in einem Ottobrunner Bungalow absichtlich gelegt hat.

Von Angela Boschert und Daniela Bode

Und was ist, wenn die Mitarbeiter des Notfallteams selbst nicht mehr können? Dann gibt es ein Notfallteam für das Notfallteam. "Wir reden darüber, wir helfen uns gegenseitig", sagt Ferroni. Einmal im Monat gibt es eine Supervision, viele Schulungen. Bereichernd findet die 31-Jährige auch die bunte Mischung der Einsatzkräfte. Nicht jeder ist Psychologe.

Seit dem Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz vom 24. Juli 2018, das nicht nur vorsieht, eine Unterbringung gegen den Willen des Betroffenen in eine Klinik zu vermeiden, sondern auch die Krisendienste in die Entscheidung mit einzubeziehen, hat sich laut Welschehold viel verändert. Auch wenn das Wort "psychiatrisch" in der Gesellschaft immer noch mit einem Stigma belegt sei, gebe es endlich neue Vernetzungen. Zum Beispiel mit den Polizeidienststellen. In akuten Krisensituationen werde immer häufiger der Krisendienst um eine Einschätzung der Lage gebeten, es gebe bereits einen Kooperationsvertrag mit den drei oberbayerischen Polizeipräsidien. "Das alles ist ermutigend und sehr entwicklungsfähig." Aber weitere Verbesserungen fallen dem 66-Jährigen ein: Die Zusammenarbeit mit den Rettungsleitstellen und der kassenärztlichen Vereinigung etwa - Vereinheitlichung und eine flächendeckende Vernetzung, das wären für ihn die nächsten Schritte.

Die Gesellschaft sei offener geworden für die psychische Not vieler Mitmenschen. Das ist wichtig und gut so, glaubt Welschehold. Denn "niemand ist gefeit davor, dass er selbst einmal in eine akute Situation kommt, in eine Krise gerät." Eine Krise, die die Seele von einer Minute auf die andere aus dem Gleichgewicht wirft. Dann aber gibt es eine Telefonnummer: 0800/6553000.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusOrdnung
:"Scham ist ein großes Thema beim Aufräumen"

Coachin Gunda Borgeest hilft Menschen nicht nur beim Aufräumen, sondern auch beim Loslassen. Von der Angst vor dem Wegschmeißen, der Wichtigkeit, dass Dinge ihren Platz haben und dem Weg zu innerer Klarheit.

Von Jessica Schober

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: