Musikstreamingdienst Napster:Gibt's das noch?

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Den ganzen Tag Musik. André Glanz, Musikchef von Napster Germany, in einem Besprechungsraum eines Co-Working-Spaces. So viele Schallplatten wie hier sind in seinem Büro nicht zu finden. (Foto: Stephan Rumpf)

Die Musikplattform Napster hatte mal 80 Millionen Nutzer, aber das ist lange her. André Glanz arbeitet bei Napster Germany und sagt: "Wir agieren im Verborgenen."

Von Michael Bremmer

Die Katze spiegelt sich im Computerbildschirm. Die Katze mit Kopfhörern, das Logo von Napster. Sie ist als Folie auf das Fenster geklebt. Es ist der einzige Hinweis darauf, dass der Musikstreaming-Dienst Napster am Viktualienmarkt im zweiten Stock eines Co-Working-Spaces sein Deutschland-Büro hat. In einem Regal sind ein paar wenige Schallplatten aufgereiht: Bruce Springsteen, The Clash, Extrabreit und eine goldene Schallplatte von "Bella Ciao" von El Profesor im Remix des französischen DJs Hugel. Ansonsten Holzboden, Holztische, Bildschirme. Büro halt.

Manchmal erfährt man mehr über die Vergangenheit und die Zukunft eines Unternehmens, wenn Mitarbeiter erzählen, was man nicht sieht. Zum Beispiel, was im Keller steht.

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Im Keller von Napster Germany ist in einer Kiste ein Overall zu finden. Der Overall, den der Rapper Bushido vor Jahren bei der "TV Total Stockcar-Challenge" getragen hatte, im Team Napster im hellblauen Auto mit dem Katzenlogo.

Auch Bühnentechnik - Mikrofone, Verstärker, Mischpult - befindet sich im Keller, um selbst einmal kleine Konzerte zu veranstalten. Wie früher.

André Glanz, 30, Musikchef von Napster Germany, steht in dem Büro am Viktualienmarkt. Er ist alleine. Wegen Corona ist auch bei Napster Home-Office angesagt. Glanz hat einen mächtigen rotbraunen Hipster-Bart. Er trägt schwarze Ohrringe, Turnschuhe, schwarze Jeans, rot-schwarzes Holzfällerhemd und eine Baseball-Kappe der Los Angeles Dodgers. Glanz sagt: "Wir sind eine Art hidden Champion. Wir agieren im Verborgenen."

Fällt in einem Gespräch das Wort Napster, kann man zwei Reaktionen beobachten. Am häufigsten wird die Frage gestellt: Gibt's das noch? Andere erinnern sich an die Anfänge 1999, als drei amerikanische Studenten eine Musiktauschbörse gründeten, zwei Jahre später 80 Millionen Nutzer damit erreichten und im Sommer 2001 zunächst ihre Plattform schließen mussten, weil ihnen Plattenfirmen mit Millionen-Klagen drohten. Alles längst vorbei. Und dennoch weist der Streaming-Dienst auf seiner Homepage selbst darauf hin: "Napster, der Pionier der digitalen Musik, bietet über 40 Millionen Titel weltweit, die du unbegrenzt hören kannst. Werbefrei und 100 Prozent legal!"

Mehr als 40 Millionen Songs bieten alle Streaming-Dienste: Spotify, Apple Music, Amazon Music, Tencent Music, Deezer - und eben auch Napster. Alle buhlen um Hörer, alle bieten mehr oder weniger das Gleiche an.

"Wir haben nicht den großen Druck, mit riesigen Marketingtöpfen Marktanteile abzugreifen"

Um zu verstehen, warum der Musikstreaming-Markt so umkämpft ist, hilft ein Blick auf die Zahlen. Nach Angaben des Bundesverbands Musikindustrie (BVMI) wird seit 2018 mit digitaler Musik mehr verdient als mit physischen Tonträgern, also Schallplatten oder CDs. 2019 hat laut BVMI die Zahl der getätigten Musik- Streams "erstmals die 100-Milliarden-Marke geknackt". Laut einer Erhebung von Statista wird sich der Umsatz durch Musik-Streaming in diesem Jahr in Deutschland auf etwa 693 Millionen Euro belaufen. Marktführer, so ist es einer weiteren Erhebung zu entnehmen, ist Spotify mit großem Abstand, gefolgt von Apple Music und Amazon Music. Napster ist in diesem Ranking namentlich gar nicht aufgelistet, läuft vermutlich unter "andere", die zusammen immerhin einen Marktanteil von elf Prozent besitzen.

Unter ferner liefen - damit kann man nicht zufrieden sein. André Glanz schüttelt den Kopf. Er widerspricht. "Wir haben nicht den großen Druck, mit riesigen Marketingtöpfen Marktanteile abzugreifen", sagt er. "Uns geht es um Qualität."

Auf dem Bildschirm im Büro am Viktualienmarkt öffnet sich der Napster-Kosmos. Neuheiten, Charts, Playlisten, alles wie gehabt, alles wie auf den anderen Seiten auch. Und doch, so sagt es zumindest André Glanz, sind diese Song-Sammlungen eine Art Alleinstellungsmerkmal von Napster. Andere Anbieter, so sagt er, erstellten diese Listen mittels Algorithmen, die Auswahl basiert dabei auf häufig gehörte Songs. "Bei uns", sagt er, "entstehen die Playlists in Handarbeit." Fünf Musikexperten sind in Deutschland für die Auswahl verantwortlich, keine großen Teams wie bei den anderen Anbietern. "Bei uns zählt nur die Musik", sagt Glanz, "es ist völlig egal, ob es sich bei dem Interpreten um einen Newcomer oder um einen Popstar handelt, wichtig ist nur, dass die Musik passt."

Die Musik, nicht die Zahlen. Klein gegen Groß, dieses Bild baut Glanz immer wieder auf. Der Pionier mit der Expertise versus große Konzerne mit dem großen Marketingetat.

10 000 Songs erscheinen jede Woche neu oder landen bei ihm im Postfach. Jeden Donnerstag macht er eine Nachtschicht, um die richtigen Titel für die Neuheiten-Playlist auszuwählen. "Ich habe ein Gespür, was die Leute hören wollen", sagt er - und wenn diese Musik noch unbekannt ist: umso besser. Wenn die Musik passt, unterstützt Glanz junge Musiker, Newcomer, die noch kaum einer kennt. Zum Beispiel die Sängerin Amilli. Sie schickte nicht nur einen neuen Song nach München, sondern ein Malbuch. Ihr Lied landete in der Neuheiten-Playlist. "Ich möchte jungen Künstlern die Möglichkeit geben, ich möchte ihnen die Türe öffnen", sagt er. Und dieser Wunsch hat sehr stark mit Glanz' eigener Vita zu tun. "Ich habe als junger Erwachsener gemerkt, wie hart das Geschäft ist. Ich weiß, wie schwer es ist, da reinzukommen", sagt er. "Keiner hilft einem, nichts wird einem geschenkt."

Glanz kam in Essen zur Welt. Er genoss musikalische Früherziehung, lernte zunächst Glockenspiel, später Gitarre. Mit 13 gründete er seine erste Rockband, Grunge, Richtung Nirvana. Doch dann besuchte er die Loveparade und ging in den treibenden Beats auf. In Mühlheim an der Ruhr, wo er aufs Gymnasium ging, begann er mit 16 seine Karriere als DJ und produzierte seine elektronischen Songs. Er nannte sich zunächst DJ Agee, später Andi Valo, spielte sich durch die Clubs in NRW und auf Festivals wie dem Nature One, landete mit seiner Musik auf Compilations.

Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung zum Toningenieur. In London machte er noch einen Bachelor in Musik-Business - 20 000 Euro musste er für das Studium zahlen, dafür jobbte er im Kino an der Kasse und im Casino als Croupier. Das war das letze Mal, dass Glanz eine Krawatte an hatte.

Glanz arbeitete bei einer Künstleragentur, die sich um das Management und Booking von DJs wie David Guetta kümmerte. Machte PR, scoutete neue Künstler, ging mit den Musikern auf Tour. Zweieinhalb Jahre hielt er durch, dann kündigte er ausgebrannt und ausgelaugt. "Ich möchte Musiker als Menschen sehen, nicht als Cash-Cows", sagt er heute. Er machte sechs Monate Pause, reiste durch die USA, erholte sich auf einer ostfriesischen Insel, wo er seine jetzige Lebenspartnerin aus Landsberg am Lech kennenlernte.

Seit Mai 2018 arbeitet Glanz bei Napster. "Musik ist meine Leidenschaft. Hier gehöre ich hin." Glanz sagt aber auch: "Ich war als Künstler einfach nicht gut genug." Jetzt hat er seine Rolle gefunden. Auf der anderen Seite des Musikgeschäfts.

Diese zwei Seiten spürt man auch im Gespräch mit ihm. Mitbewerber, Big Player, Endkonsumenten - die Betriebswirtschaft bemerkt man schnell bei der Ausdrucksweise. Auf der anderen unterscheidet er sich schon optisch von anderen Managern, sitzt locker am Tisch, fährt sich immer mal wieder mit den Fingern durch seinen Bart und schwärmt vom lockeren Umgang miteinander in der Musikbranche. "Da geht es nicht um Etikette", sagt er.

Als André Glanz zu Napster kam, war der Prozess bei dem Unternehmen voll im Gang, sich neu auszurichten. Die Zeiten, in denen man mit Team Napster bei einem Stockcar-Rennen im Privatfernsehen mitmischte, waren vorbei. Die Erkenntnis hatte sich durchgesetzt, dass man mit den anderen Anbietern "finanziell nicht mitspielen kann". Es blieb, wie es Glanz skizziert, die Frage: "Wo ist unser Platz?"

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Wirtschaftlich ist diese Frage schnell beantwortet. B 2 B, Business-to-Business. "Wir helfen anderen Firmen, Musikthemen auszuarbeiten", sagt Glanz. Mehr als 20 Partnerschaften hat Napster mittlerweile aufgebaut. Bietet etwa ein Discounter ein Musikstreaming im Billigtarif an, bekommt der Kunde Napster. Gleiches gilt für den Automobilkonzern, der ein Autoradio mit integrierter Musikdatenbank und Playlisten anbietet. Oder wenn ein Mobilfunkanbieter einen Handyvertrag samt Musikangebot verkauft. Da kommt einiges zusammen. Auch das ist ein Grund, warum Glanz das schlechte Abschneiden beim Ranking der Musikstreaming-Dienste eher gelassen sieht.

Aber auch im direkten Kundenkontakt will das Unternehmen wachsen. Gleich zu Beginn veränderte Glanz die Herangehensweise bei den Playlists. Napster hat weltweit fünf Standorte: Seattle, São Paulo, Tokio, Paris und München. "Alle haben im Prinzip das Gleiche gemacht", sagt Glanz, konkret: Jeder machte Playlisten in allen Genres. Jetzt wird priorisiert. Und global genutzt. In São Paulo sitzen die Experten für Indie und Alternative, in Japan, klar, werden die Listen für K-Pop (Korean Popular Music) zusammengestellt, in Seattle werden unter anderem die spannendsten US-Hip-Hop-Songs ausgesucht. Und in München wird sich auf Rock und elektronische Musik konzentriert. 500, 600 Playlisten weltweit.

Dann, 2020, kam Corona. Ein Glücksfall für die Branche, möchte man meinen. Von wegen. Für Musikstreaming-Dienste kam "das große Loch", sagt André Glanz. Warum? Hatten die Menschen nicht plötzlich viel Zeit. Saßen zu Hause und suchten Unterhaltung. Profitiert hatten aber nur die Unternehmen, die Filme zeigten. Bei Napster und all den anderen brachen von einem Tag auf den anderen die Aktivitäten weg, "bei denen Musik gehört wurde", sagt Glanz. Der Weg zur Arbeit. Das Work-out im Fitnessstudio. "Wir mussten was für den Lockdown bereitstellen", sagt Glanz. Innerhalb von drei Tagen haben Glanz und seine Mitarbeiter Musik für zu Hause zusammengestellt, fürs Kochen oder Yoga im Wohnzimmer. "Auf die Idee kam jeder, aber wir waren schneller", sagt Glanz. "Die Zahlen sind richtig explodiert."

Je mehr Songs gehört werden, desto mehr profitieren die Künstler. Oder eben nicht, das ist der ständige Vorwurf an Musikstreaming-Dienste, zu gering ist der Verdienst für die Musiker. "Wir wollen fair sein zu den Künstlern", sagt Glanz. Bei Napster, so zeigt eine Statistik, werden im Durchschnitt ein Euro für 69 Streams ausgezahlt. Das ist mehr als bei den anderen Anbietern. Andererseits: Bei Spotify etwa werden Songs weit öfters aufgerufen.

Auch Napster blickt optimistisch in die Zukunft. Im Januar läuft der Mietvertrag für das Büro im Co-Working-Space aus. Man sei auf der Suche nach einem eigenen Büro, sagt Glanz. Er möchte endlich auch eigene Livestreams aus Deutschland anbieten, mit großem Napster-Logo hinter dem Schlagzeug. Vielleicht ja sogar aus dem eigenen Büro, das Equipment dazu haben sie ja. Die Katze will tanzen.

© SZ vom 14.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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