SZ-Serie: Nachtgeschichten:Abgefeiert

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Vor einem Dönerladen sprechen Eylem Schönwälder und Kay Mayer einen Mann an, dem es sichtlich schlecht geht. Er lallt, ist aber noch ansprechbar und kann seine Adresse nennen, deshalb verzichten sie schließlich darauf, einen Krankenwagen zu rufen. (Foto: Robert Haas)

Wenn sich nach der Partynacht die Zahl der Betrunkenen häuft, kommt die Zeit von Kay Mayer und Eylem Schönwälder. Die Streetworker von Condrobs kümmern sich um die Feiernden entlang der Partymeile.

Von Anna Hoben und Robert Haas (Fotos)

Wie weit die Nacht fortgeschritten ist, erkennt man daran, dass die Abstände zwischen den Gekrümmten geringer werden. Zum Beispiel hier, am Rand des Wittelsbacher Brunnes, sitzt einer. Gekrümmt, die Stirn auf dem Knie abgelegt, schlummernd. Kay Mayer weckt ihn auf. "Geht es dir gut?", fragt er. "Alles okay", sagt der junge Mann, er wirkt noch recht klar. Er bedankt sich, steht auf, geht einmal um den Brunnen herum, setzt sich und sackt wieder in sich zusammen. Auf der Bank, auf dem Bordstein, am Tisch vor dem Dönerimbiss - überall Gekrümmte entlang der sogenannten Feierbanane, der Partymeile vom Glockenbachviertel bis zum Maximiliansplatz. Um halb vier hat so mancher, der aufrecht in diese Samstagnacht gestartet ist, die Haltung aufgegeben. Dabei hatte die Nacht vermutlich so begonnen wie viele Partynächte: mit dem Vorsatz, sie zur besten des Sommers zu machen. Und trotzdem war er bei manchem irgendwann da, der Punkt, an dem nichts mehr zu retten war. An dem klar wurde, dass das letzte Bier eins zu viel war.

Jetzt ist die Zeit von Kay Mayer und Eylem Schönwälder. Die beiden Streetworker von Condrobs, eines Trägers für soziale Hilfsangebote, arbeiten auf der Partymeile. Conaction heißt das Projekt, in dem sie sich um die Feiernden in der Stadt kümmern. Immer im Zweierteam, immer ein Haupt- und ein Ehrenamtlicher. An diesem Abend: Kay Mayer, Projektleiter von Conaction, und Eylem Schönwälder. Sie studiert noch, gehört also zur sogenannten Peergroup vieler Feiernder. Das soll die Ansprache auf Augenhöhe erleichtern.

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Um halb elf, es war längst dunkel, haben sie sich getroffen, in ihrem Büro an der Schwanthalerstraße. Mayer, 35, ist davor schon die Sonnenstraße abgegangen, "um einen Eindruck zu kriegen". Auf Instagram hat er vorher zudem geschaut, was die Clubs in dieser Nacht so bieten. Seit vier Jahren ist er bei Conaction. Er hat es aufgegeben, Prognosen abzugeben, ob an einem Abend viel oder wenig los sein wird. Was sich schon bemerkbar mache: ob gerade Monatsanfang oder Monatsende ist, ob das Geld also locker sitzt oder ob alles schon ausgegeben ist. Stammstreckensperrung, Wetter, Urlaubszeit, so vieles hat Einfluss auf die Partynacht - und dann gibt es ja noch die unbekannten Variablen. An diesem Abend jedenfalls ist was los, in der Luft liegt die Stimmung von nicht enden wollenden Sommernächten. Gerade ein bisschen zu kühl, um an der Isar zu sitzen, und weil es tagsüber geregnet hat, zieht es die Leute jetzt nach draußen zum Feiern.

Wenn Kay Mayer zu bundesweiten Streetwork-Kongressen fährt, hört er oft: "München? Da braucht ihr so was doch gar nicht." Nun, in München läuft manches anders, geregelter, und trotzdem ist der Spruch so absurd, dass Mayer nur müde lächeln kann. "Die Nacht mit 1,5 Millionen Leuten in der Großstadt", sagt er, "da kann immer alles passieren." Er lächelt jetzt überhaupt nicht müde, im Gegenteil, er ist hellwach. Im Büro hat er noch ein Spezi getrunken, es kann losgehen. Kappe auf dem Kopf, Kapuzenpulli, auf dem Rücken steht "Respekt". Kurze Hose, auf dem Unterschenkel ein Tattoo, das chinesische Zeichen für Freiheit. Wichtig: bequeme Turnschuhe, 15 000 Schritte können schon zusammenkommen auf einer Tour.

Eine Gruppe junger Frauen ist mit Fotografieren beschäftigt. (Foto: Robert Haas)

Mit ihrem Streetwork-Bus fahren Mayer und Schönwälder zum Stachus, geparkt wird auf dem Platz. Im Kofferraum lagert ein Vorrat an Taschentüchern und Kotzbeuteln. Weiter geht es zu Fuß, zunächst Richtung Lenbachplatz. Am Wittelsbacher Brunnen eine Gruppe Mädels aus Braunschweig, die gerade dabei sind, ihre Selfies zu optimieren. Gleich wollen sie in einen Club, Mayer schenkt ihnen Testbänder, mit denen sich K.-o.-Tropfen nachweisen lassen. "Wenn es sich blau verfärbt, bestellt euch ein neues Getränk", sagt er. Die Route führt weiter am Maxpark vorbei, wo sie einmal eine 13-Jährige mit 2,1 Promille aufgegabelt haben. Wo die einen sich zum Vorglühen treffen, die anderen zum Ausruhen hingehen und wieder andere zum Austreten. Jetzt liegt dort nur ein Mann auf einer Steinbank, Mayer nähert sich, "der lagert nur", sagt er dann. Weiter also, dorthin, wo die "frühen Clubs" sind, in denen auch vor Mitternacht schon was los ist. Das Sweet oder das La Nuit. Kay Mayer und Eylem Schönwälder kennen die meisten Türsteher mit Namen, man grüßt sich mit Handschlag oder Umarmung. Kürzlich sei er mal privat dagewesen, erzählt Kay Mayer vor dem Sweet, dabei habe er festgestellt, "ich bin zu alt für den Laden". Der Türsteher frotzelt: "Du bist zu alt für jeden Laden." Allgemeine Heiterkeit.

Bisher, gegen Mitternacht, auch allgemeine Friedlichkeit. Die Türsteher jener Clubs, die mit Conaction kooperieren, haben die Handynummern der Streetworker eingespeichert - für Situationen, die nicht ganz so friedlich sind, für die aber auch keine Polizei gebraucht wird. Manche wollen auch nichts mit den Streetworkern zu tun haben, sie würden die Leute vom Feiern abhalten, heißt es dann. Aber genau das wollen sie nicht. "Wir sind nicht die Partypolizei", sagt Kay Mayer. Lieber spricht er von "Feierkompetenz", und das passt ja gut in eine Zeit, in der an die Freizeit oft mit derselben Professionalität herangegangen wird wie an die Arbeit. Im Grunde genommen heißt es aber einfach, dass man sich seiner Grenzen bewusst sein sollte. Wer letztere überschritten hat, wer Unterstützung braucht oder in eine Krise geraten ist - für den sind die Streetworker da. Zielgruppe: etwa bis 27 Jahre. Vor allem aber dokumentieren sie mit ihrer Arbeit auch das Münchner Nachtleben. Es dürfte wenige geben, die so umfassend Bescheid wissen wie Mayer und seine Kollegen.

Vorbei an der Roten Sonne, vorbei an der 089 Bar, dem Club, der immer voll ist, "fünf Tage die Woche", wie die Türsteher versichern, vorbei am Pacha, wo die Hüter äußerst beschäftigt aussehen. Hauptgesprächsthema unter den Türstehern an diesem Abend: der Mann, der nachts zuvor mit seinem Rad in vollem Tempo gegen einen Baustellenzaun auf der Sonnenstraße gedonnert ist. Jemand hat die Szene zufällig gefilmt, das Video macht jetzt die Runde. Kay Mayer und Eylem Schönwälder biegen nach rechts ab, in den Alten Botanischen Garten. Am Brunnen sitzen in dieser Nacht zwei junge Männer und eine Frau um die 20, die Streetworker kommen mit ihnen ins Gespräch. Wie das eigentlich sei mit diesem "Spice", will der eine wissen. "Wie unterscheidet sich das von richtigem Gras?", fragt er. Kay Mayer warnt ausführlich vor der Wirkung der sogenannten Cannabinoide. Er weiß aber auch, dass er die jungen Erwachsenen nicht davon abhalten können wird zu probieren, was sie probieren wollen. Dann sollen sie zumindest informiert sein. "Ich bin froh, wenn jemand fragt." Akzeptierende Streetwork, so nennt sich dieser Ansatz.

Gegen ein Uhr wachsen die Schlangen vor den Clubs. (Foto: Robert Haas)

Weiter, die Sonnenstraße entlang, wo sich Clubs mit Obdachlosen-Lagern abwechseln. Nach dem Harry Klein biegen sie kurz nach rechts in die Schwanthaler Straße ab. Mayers Routine: Auf jeder Tour guckt er einmal in den Hauseingang, in dem er bei seinem ersten Einsatz seine erste Klientin gefunden hat. Vor dem Cord Club versuchen sie einem Engländer zu helfen, den der Türsteher nicht hineinlässt. Sie wollen ihm Alternativen nennen, wo er noch hingehen könnte. Ist jetzt nur nicht gerade das, was er hören will.

Streetworker ist Kay Mayer über Umwege geworden. Zuerst hat er BWL studiert, später dann Sozialmanagement. Auch Eylem Schönwälder, die mit 39 Jahren älter ist als die anderen ehrenamtlichen Studenten, hat einst etwas ganz anderes gemacht. In der IT war sie, "aus den falschen Gründen im falschen Job", dann hat sie beschlossen, das zu studieren, was sie immer schon studieren wollte: Psychologie. Nach jeder Nachtschicht bei Conaction habe sie "das Gefühl, dass es sinnvoll war". Drei Uhr ist es jetzt, "eine kritische Zeit", sagt Eylem Schönwälder, oft passiere so spät doch noch etwas. Und tatsächlich stoßen sie unterhalb vom Stachus in der Neuhauser Straße auf eine merkwürdige Schlägerei. Ein Mann jagt einen anderen mit einer Lederjacke, Gerangel, der eine knallt gegen die Metallwand, die einen Kran einzäunt. Tauben flattern auf, ein Flaschensammler schiebt sein Fahrrad vorbei. "I'm so sorry", ruft ein Dritter den Streetworkern zu, die die Szene beobachten. Sie greifen nicht ein, weil die Männer zu aggressiv wirken, sind aber bereit, die Polizei zu rufen. Kurz darauf liegt der Erste erschöpft am Boden, streckt alle Viere von sich. Ihm fehlt ein Schuh. Der Zweite bringt ihm den Schuh und redet leise auf ihn ein. Die beiden scheinen plötzlich wieder beste Freunde zu sein.

Eine kleine letzte Runde noch. Vor einem Club ein Typ mit einer halbnackten Frau auf dem T-Shirt, er schwankt nach links, er schwankt nach rechts. Auf der anderen Straßenseite wirbt Tinder auf Plakaten: "Single feiert, wie Single will." Manche hat die Nacht nun endgültig verschluckt, der nächste Morgen wird sie böse ausspucken. Es ist ein Wanken und Schwanken in den Straßen. Wer nüchtern geblieben ist, dem kommt die Zombie-Apokalypse aus Hollywood-Filmen in den Sinn. Kann man denn nach so einer Nacht als Streetworker gleich runterkommen? Im Winter, sagt Eylem Schönwälder, da brauche sie erst mal ein Bad. Kay Mayer indes schläft in der kalten Jahreszeit zu Hause sofort ein vor Erschöpfung. Im Sommer schaut er vor dem Schlafen gern noch eine Serienfolge an. Zurzeit am liebsten: "The Walking Dead".

© SZ vom 26.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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