Gewalt in Kinderheimen:3,3 Millionen Euro Soforthilfe für Betroffene von Missbrauch

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In mehreren Kinderheimen, in denen das Jugendamt in den 60er- und 70er-Jahren Kinder unterbrachte, erlebten diese später Gewalt. (Illustration) (Foto: Britta Pedersen/dpa)

Die Stadt München will mit einer Kampagne Menschen erreichen, die in Kinderheimen Gewalt erfahren haben und heute oft in Not sind. Bisher haben sich erst 70 Personen gemeldet, oft sitzt die Scham auch im Erwachsenenalter noch tief.

Von Bernd Kastner

Wo sind all die Menschen, die als Kinder unter der Obhut des Münchner Jugendamtes Gewalt erlebt haben? Diese Frage stellt sich die städtische Expertenkommission, die Missbrauch in Heimen, Pflege- und Adoptionsfamilien aufarbeiten soll. Bisher hätten sich 70 Betroffene gemeldet. "Erst 70", sagt Leiter Ignaz Raab. Man gehe davon aus, dass viele Betroffene noch gar nicht wüssten, dass sie Anspruch auf städtische Hilfe haben. Deshalb starteten Kommission und Betroffenenbeirat eine Kampagne mit Plakaten in U-Bahnzügen und -stationen und Zehntausenden Flyern. Sie wollten die Infos auch gezielt über Heime für Obdachlose verteilen, da vermutlich nicht wenige Betroffene als Erwachsene in große Not abgerutscht seien. Der frühere Kripobeamte Raab sagt: Jeder, der Gewalt in städtischer Obhut erlebt habe, sei es sexualisierte, körperliche, psychische oder behördliche, "möge sich bitte melden".

Er ahne, warum sich viele bislang nicht gemeldet hätten, sagt Klaus Hirschvogel vom Betroffenenbeirat: Wer als Kind Missbrauch erlebt habe, für den sei das so schambehaftet, dass sich dieses Gefühl auch im Erwachsenenalter kaum auflösen lasse. Auch der Betroffenenbeirat stehe ihnen für Gespräche offen. Hirschvogel lobt die Stadt für ihren vorbildlichen Umgang mit dem Thema.

Bisher habe der Stadtrat 3,3 Millionen Euro Soforthilfe für Betroffene bereitgestellt, sagt Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD). Inzwischen sei auch geklärt, dass dieses Geld nicht auf Sozialleistungen angerechnet werde. Dietl betonte, wie wichtig es ihr sei, "die dunklen Jahre der Stadtgeschichte" zu beleuchten: "Man hat lange weggesehen." Wenn Betroffene es wünschten, stehe sie als Bürgermeisterin auch für persönliche Gespräche zur Verfügung. Natürlich nicht im therapeutischen Sinne, aber als Zeichen, dass sich die Stadtspitze für die Lebensgeschichten der Betroffenen interessiere.

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Ausgelöst wurde die Aufarbeitung 2021 durch Berichte von Betroffenen und Recherchen ihrer Unterstützer, die den Vorwurf erheben, dass es in mehreren Heimen, in denen das Jugendamt Kinder unterbrachte, zu systematischer Gewalt gekommen sei. Im Fokus stehen Geschehnisse in den 60er- und 70er-Jahren in Oberammergau und Feldafing.

Noch immer nicht gestartet ist die wissenschaftliche Aufarbeitung. Nachdem sich auf eine öffentliche Ausschreibung niemand gemeldet habe, berichtet Raab, strebe man nun in einer Public-Public-Partnership eine Kooperation mit Universitäten an. Man wolle die Missbrauchsgeschichte des Jugendamtes interdisziplinär recherchieren lassen.

Raab erneuert seine Forderung an den Freistaat, sich in die Aufarbeitung von Missbrauch einzubringen. Die angekündigte "Lotsenstelle" für Betroffene reiche nicht, es brauche Koordination der verschiedenen Aufarbeitungskommissionen, damit nicht jede das Rad neu erfinden müsse. "Da würde ich mir mehr Staat wünschen", sagte Raab.

Kontakt für Missbrauchsbetroffene: anlaufstelle@kinderschutz.de; Telefon 089/231716-9170.

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Ignaz Raab, 64, leitet die Kommission der Stadt München, die Missbrauch in Kinderheimen aufarbeitet. Der frühere Kriminalbeamte fordert einheitliche Regeln, um Betroffenen besser zu helfen, und kritisiert die Passivität der Politik.

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