Wissenschaft:Brücken bauen in Zeiten des Krieges

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Die Demonstrationen für die Ukraine, wie hier auf dem Geschwister-Scholl-Platz in München vor einem Jahr, sind weniger geworden. (Foto: Florian Peljak)

Am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität wurden die Kontakte zur Ukraine intensiviert, während alle Verbindungen nach Russland gekappt sind. Martin Schulze Wessel, Experte für Osteuropaforschung, sagt: Es geht Putin um viel mehr als die Erweiterung seines Territoriums.

Von Martina Scherf

Es fühle sich immer noch surreal an, sagt Iryna Klymenko. Auch wenn der russische Angriffskrieg auf ihre Heimat nun schon fast zwei Jahre dauert. Auch wenn sie regelmäßig ihre Familie in Lwiw besucht und dort kaum eine Nacht ohne Raketenalarm vergeht. Jedes Mal, erzählt die Historikerin, würden sie dann überlegen: Wecken wir die vier- und sechsjährigen Neffen oder lassen wir sie schlafen? Solche existenziellen Fragen beschäftigen sie dort. Zurück in München versucht sie, mit ihrer Habilitationsschrift voranzukommen. Und den Krieg auszublenden, wenigstens für ein paar Stunden.

Iryna Klymenko lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU), Schwerpunkt europäische Geschichte der Frühen Neuzeit als Verflechtungsgeschichte von "Ost" und "West". Sie setzt die Begriffe in Anführungszeichen, weil sie überzeugt ist, dass diese Trennung, die aus dem Kalten Krieg stammt und sich bis heute in deutschen Schulbüchern hält, irreführend ist und der Komplexität der Geschichte nicht gerecht wird.

Iryna Klymenko forscht zu den historischen Verflechtungen zwischen Ost- und Westeuropa. (Foto: Robert Haas)

1981 in der Ukraine geboren, kam sie mit 25 Jahren nach München. Sie hat auf Deutsch promoviert, spricht neben ihrer Muttersprache Ukrainisch auch noch Englisch, Polnisch, Russisch, sie kann Jiddisch, Latein und Althebräisch. Als sie damals in Deutschland ankam, stellte sie fest: In der akademischen Welt, selbst in der Geschichtswissenschaft, habe die Ukraine kaum existiert. "Und jetzt", sagt sie, "sind plötzlich alle Ukraine-Experten und tragen blau-gelbe Ketten."

An der LMU allerdings hat sich seither viel verändert. Das ist vor allem Martin Schulze Wessel zu verdanken, der den Lehrstuhl für die Geschichte Ost- und Südosteuropas innehat. Er gründete 2015, kurz nach der russischen Annexion der Krim, die Deutsch-Ukrainische Historische Kommission, um die Verbindungen zu vertiefen und den akademischen Nachwuchs zu fördern. Schon vor 20 Jahren rief er zusammen mit Kollegen der Universität Regensburg den Elitestudiengang Osteuropastudien ins Leben. Der wird vom Elitenetzwerk Bayern gefördert und ist bis heute ein Erfolgsprojekt. Dass sie im Jahr 2023 das Jubiläum unter den Zeichen des Krieges feiern würden, das hätte aber auch er sich nicht träumen lassen, gibt er zu.

Martin Schulze Wessel, Historiker und Lehrstuhlinhaber für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU, spricht am 21. Februar in Gräfelfing. (Foto: privat)

Damals sah Europa noch anders aus. Die Hoffnungen richteten sich auf ein immer stärkeres Zusammenwachsen, sagt der Professor. Russische und ukrainische Studierende kamen - neben solchen aus anderen ost- und südosteuropäischen Ländern - nach München. Umgekehrt gingen Münchner Studierende nach Moskau, Petersburg, Kiew oder Lwiw. Doch seit Februar 2022 hat sich der Fokus am Historischen Seminar verschoben.

Die Verbindungen nach Russland wurden nach Putins Überfall auf die Ukraine gekappt, erklärt Schulze Wessel, wie an allen deutschen Hochschulen. "Hielten wir jetzt noch Kontakt, und sei es auch nur informell, würden wir damit auch unsere russischen Kolleginnen und Kollegen gefährden." Denn jeder mit Westkontakten steht jetzt in Russland unter Verdacht.

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Schulze Wessel hat in den 1980er-Jahren selbst in Moskau studiert, später dort promoviert. Er hat russische Freunde. "Die meisten sind inzwischen im Westen", sagt er, "andere zogen sich in die innere Emigration zurück." Es gebe aber auch einzelne, die sich dem Mainstream verschrieben und mit der Zeit orthodoxen, nationalen Themen zugewandt hätten.

Um jenen, die in Gefahr sind, weil sie sich nicht anpassen wollen, zu helfen, engagiert sich der Historiker in einem Programm, das Fellowships für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die politisch verfolgt werden oder sich für den freien Austausch von Wissen aktiv einsetzen, an das Wissenschaftskolleg in Berlin und The New Institute in Hamburg vermittelt. "Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein, aber für den oder die Einzelne doch eine große Hilfe."

Während also die Zusammenarbeit mit russischen Universitäten zum Erliegen kam, wurden die Kontakte in die Ukraine intensiviert. "Schon kurz nach dem Beginn des Angriffskriegs haben Kolleginnen und Kollegen am Historischen Seminar einen Hilfsfonds eingerichtet. So konnten wir rund 30 Wissenschaftlerinnen in München mit Stipendien und Wohnungen versorgen oder an andere Institutionen weiterleiten", erzählt Schulze Wessel. Auf diese Weise entstehen auch neue Forschungsnetzwerke.

Die berühmte Literaturwissenschaftlerin Tamara Hundorova, Mitglied der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften, zog von München inzwischen weiter nach Princeton. Die Historikerin Natalia Kovalchuk arbeitet am Historischen Seminar der LMU daran, "die Vorstellung der missionarischen Rolle Russlands im Rahmen des Panslawismus zu beleuchten" und freut sich über die Bayerische Staatsbibliothek mit ihrer "perfekten Sammlung von Literatur über Osteuropa."

Schulze Wessel schreibt weiter Anträge für Jahresstipendien, um Ukrainerinnen - es sind überwiegend Frauen, die ausreisen dürfen - nach München zu holen. "Da sitzen dann Studentinnen im Seminar, die lernen müssen, obwohl sie vielleicht am Tag zuvor die Nachricht vom Tod eines engen Verwandten oder Freundes erhielten." Umgekehrt können die Studierenden nicht mehr für Sprachaufenthalte in die Ukraine reisen. "Das ist schmerzlich", sagt der Professor. "Die meisten blieben früher ein Jahr im Land, denn unser Studium basiert darauf, dass man die jeweilige Sprache richtig gut beherrscht." Jetzt müssen sie Ukrainisch in München lernen, immerhin von Muttersprachlern.

Schulze Wessel selbst war erst im Oktober wieder in Lwiw (Lemberg). Die Heimatstadt von Iryna Klymenko ist seit Jahrhunderten vom Zusammenleben verschiedener Ethnien geprägt: Polen, Juden, Ukrainer, Deutsche, Armenier, Russen, auch Italiener oder Schotten zog es in die kulturell bedeutende Stadt. Das Zentrum ist Weltkulturerbe, sein mediterranes Flair diente immer wieder als Filmkulisse. Schulze Wessel erforscht allerdings ein dunkles Kapitel der Geschichte. Zusammen mit ukrainischen Kollegen rief er ein langjähriges Forschungsprojekt ins Leben, das von der Bundesregierung in den ersten vier Jahren mit 2,5 Millionen Euro gefördert wird.

Es geht um die deutsch-ukrainisch-europäische Geschichte im vergangenen Jahrhundert. Master- und Doktorarbeiten sollen sich vor allem mit der Massengewalt im 20. Jahrhundert - von deutscher und von sowjetischer Seite - beschäftigen, unter der die Ukraine litt: Der Holocaust und der Holodomor (die Hungerkatastrophe unter Stalins Herrschaft 1932/33, der Millionen Menschen in der Ukraine zum Opfer fielen), die Verbrechen der deutschen Wehrmacht und jene der russischen Armee. In Lwiw soll dazu ein Forschungszentrum entstehen. Allerdings haben sich mehrere Doktoranden des ukrainischen Kooperationspartners in Lwiw, die in dem Projekt mitarbeiten könnten, freiwillig zum Armeedienst gemeldet. "Wir hoffen sehr, dass alle gesund zurückkehren", sagt Schulze Wessel.

Seine Position zu Putins Angriffskrieg hat der Historiker immer wieder klargemacht: Der russische Autokrat handele weniger aus rationalem Kalkül, sondern folge vielmehr "historischen Drehbüchern". "Seine Role Models sind die großen Zaren wie Peter I.", sagt er. "Wer Puschkin oder Dostojewski liest, begegnet immer wieder diesem Überlegenheitsgefühl der russischen Nation. Und das wirkt bis heute, auch in den liberalen Eliten." In seinem jüngsten Buch "Der Fluch des Imperiums" (Beck-Verlag) erklärt Schulze Wessel diese Zusammenhänge. "Was Deutschland nach 1945 mühsam gelang, steht Russland noch bevor: die Abkehr vom Imperium."

Auch er habe gehofft, gibt der Professor zu, dass die Zusammenarbeit auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet ein Gegengift sein könnte gegen die zunehmende Aggression Russlands nach außen und die Repression nach innen. "Wandel durch Annäherung - das hat nichts gebracht", sagt er heute. Die Regierung in Berlin habe die Signale aus Moskau nicht zu lesen verstanden. "In der deutschen Politik standen wirtschaftliche Interessen im Vordergrund."

Als Putin dann im Juli 2021 einen Essay "Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern" auf der Webseite der russischen Regierung veröffentlichte, antwortete Schulze Wessel umgehend in einem Aufsatz: Das müsse man als Kriegserklärung verstehen. Er ist überzeugt, dass es Russland mit diesem Krieg um mehr gehe als nur um territoriale Ausdehnung, "es geht ihm um die Zerstörung der ukrainischen Nation und gleichzeitig um die Destabilisierung des Westens".

Iryna Klymenko wird bald wieder nach Lwiw reisen. Es sei bedrückend, aber dort fühle sie sich wenigstens ihren Leuten nahe, sagt sie. Sie wünscht sich, dass eines Tages, wenn dieser Krieg zu Ende ist, nicht wieder eine Mauer in den Köpfen der Menschen errichtet werde, hier der Westen, dort der Osten. Sondern dass auch in der akademischen Welt die Einsicht wachse, "dass Europa Vielfalt bedeutet und man europäische Geschichte nur von ihren historischen Verflechtungen her denken kann."

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