Kritik:Wer sich eine Grube gräbt

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Abgründe tun sich auf: "Heart Chamber Fragments" von Paper Tiger an den Münchner Kammerspielen. (Foto: Judith Buss)

"Heart Chamber Fragments" an den Münchner Kammerspielen verbindet auf verblüffende Weise Kafka mit Herztransplantationen.

Von Yvonne Poppek, München

Am Ende des Abends sind einige vom Erdboden verschluckt. Was an sich schon ein spektakulärer Effekt ist, den man ad hoc der Therese-Giehse-Halle so gar nicht zugetraut hätte. Sieben der neun Darsteller rutschen in einer Grube aus rotem Granulat in die Tiefe des Bühnenbodens, Nebel wabert, Gliedmaßen zerren an dünnen Hemdchen, ein Auf- und Abtauchen, dann nichts. Der Mensch ist sich selbst ein Abgrund.

"Heart Chamber Fragments" heißt der Abend, den die Kammerspiele mit dem Pekinger Theaterkollektiv "Paper Tiger Theater Studio" unter der Regie von Tian Gebing entwickelt haben. Drei komplett unterschiedliche Texte sind die Ausgangsbasis: Jean-Luc Nancys "Der Eindringling", Franz Kafkas "Der Bau" und Tao Yuanmings "Der Pfirsichblütenquell". Bei Nancy geht es um die inneren Konflikte, mit einem Spenderherz zu leben. Kafkas paranoider Ich-Erzähler zirkelt seinen Erdbau ab, der "Pfirsichblütenquell" schließlich ist eine poetische Parabel über ein bedrohtes Paradies. Wie fügt sich das nun zusammen, wenn auch noch Recherchen zur Herztransplantation einfließen?

Es ist verblüffend, dass diese Frage obsolet wird, je länger der Abend dauert. Gänge, Windungen, Öffnungen, Leben, Überleben, Fremdlinge, Eindringlinge, Außen, Innen - alles spielt überall eine Rolle, Kafkas Bau stülpt sich quasi über das Narrativ, so wie das Herz nach außen drängt, es mehr und mehr zum Objekt wird. Die neun Darsteller arbeiten dabei körperlich-assoziativ, bilden Paare, Gruppen. Der Tanz von Erwin Aljukić, Manel Salas Palau, Cindy NG und Wang Ya'nan gerinnt zu einem Kampf mit sich selbst. Je labiler die Situation, desto weiter wird der Bühnenboden aufgerissen. Svetlana Belesova wird als Hoffnungserzählerin begraben. Denn: Es gibt keine Chance sich selbst zu entrinnen.

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