München/Gräfelfing:Klavierkonzerte und Fußpflege als soziales Event

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Der Lockdown und die besonders strengen Corona-Auflagen waren für die Altenheime eine harte Belastungsprobe. Doch er führte auch zu einer neuen Nähe zwischen Personal und Bewohnern. Und vieles, was aus der Not geboren wurde, ist noch heute eine Bereicherung

Von Claudia Wessel

Thomas Hirschi ist kein Fußpfleger. Er ist Leiter der Sozialen Betreuung im Haus am Wiesenweg, einem Altenheim in Pullach mit 139 Bewohnern, der größte Teil von ihnen Pflegefälle und dement. In der Zeit des kompletten Lockdowns vom 13. März bis zum 10. Mai übernahm Hirschi dennoch bei rund 60 Personen Fußpflege.

Es musste jemand machen. Denn das Haus war von der Außenwelt abgeriegelt, niemand außer den Bediensteten durfte hinein oder hinaus. Ausgesperrt waren damit nicht nur die Angehörigen, die ansonsten viele Stunden mit ihren Verwandten verbrachten, sondern auch die Ehrenamtlichen. Die "Grünen Damen" durften nicht kommen, nicht die Pullacher Mädels, nicht die Nachbarschaftshilfe, nicht die Hospizbegleiter, nicht die externen Seelsorger. Alles Menschen, die normalerweise den Tag der Bewohner zu einem großen Teil ausfüllen und viel für sie tun. Plötzlich gab es nur noch die Kräfte des Hauses.

Auch Karlheinz und Annegret Mayr, die im Caritas-Altenheim St. Gisela in Gräfelfing leben, verließen ihr Heim zwei Monate lang nicht. "Ich hätte zwar rausgehen können", sagt Karlheinz Mayr, 77. "Aber dann hätte ich beim Zurückkommen zwei Wochen in Quarantäne gemusst." Also blieb er bei seiner Frau, die schon ein Pflegefall ist. Sie leben gemeinsam in einem Appartement, zu Annegret Mayr, 70, kommt regelmäßig die Pflegerin, auch nachts, und es wird geputzt.

"Im Heim wurden wir die ganze Zeit sehr gut versorgt", sagt Mayr. Da fehlte es ihm also an nichts. Glücklicherweise war das Ehepaar auch vereint, musste also nicht ganz so unter dem Besuchsverbot leiden. Kinder haben sie nicht. Seine 92-jährige Schwester allerdings hat Karlheinz Mayr seit März nicht gesehen, auch die Nichte legt immer noch nur Mitbringsel in einen bereitgestellten Wagen vor dem Heim. "Die sozialen Kontakte fehlen mir", sagt Mayr. Vor Corona gingen er und seine Frau mehrmals im Monat raus, Freunde treffen, zum Essen. Er ging auch öfters schwimmen und zur Massage. Darauf verzichtet er immer noch.

Die Zeit hat er sich sinnvoll vertrieben, wie er versichert. Zwei Stunden am Tag hat er am Computer gesessen und sich der Steuererklärung gewidmet, dann gelesen und Fernsehen geschaut. Ja, die Fußpflege hat auch gefehlt. "Die Zehennägel haben wir uns selbst geschnitten. Und die Haare sind halt lang geworden."

Thomas Hirschi und sein Team, normalerweise für die soziale Betreuung in großen Gruppen zuständig, mussten ihr gesamtes Konzept umstellen. Und sie mussten Ideen entwickeln, wie sie den Tag für die Menschen in dem Heim angenehm verkürzen konnten. Denn viele waren natürlich irritiert und traurig, vor allem die Dementen. Viele fragten: "Warum darf ich nicht raus?" Denn sie waren ihren täglichen Spaziergang gewöhnt. Eine Riesen-Herausforderung für die Betreuer im Heim, versichern neben Hirschi auch die Heimleiterin Martina Makosch und die Pflegedienstleiterin Danjela Budimir.

Doch die Not gebar einige gute Ideen. So bekam das Heim von der Familie einer Bewohnerin für die schwere Lockdown-Zeit ein fahrbares Klavier geschenkt. Dieses stellte man im Flur auf, und zwei Bewohner, ein ehemaliger Professor für Musik, und eine ehemalige Musiklehrerin, spielten für ihre Mitbewohner. Ein besonderer Service von Hirschi wurde das Frühstück am Bett. Dazu fuhr er mit der mobilen Küche vor, die das Heim kurz vorher angeschafft hatte. Er machte dann schon frühmorgens frische Pancakes oder Rührei.

Auch spezielle Kosmetiksitzungen mit den Bewohnern gab es. Dafür wechselten die Pflegekräfte einfach mal ihr Tätigkeitsgebiet: Sie drehten den Frauen Lockenwickler ins Haar und trugen ihnen Nagellack auf. Für die Bewohner, die früher in der Schachgruppe waren, stellten sich Einzelne für ein Spiel zur Verfügung. Die Bettlägerigen bekamen öfter Besuch vom Sinneswagen. Dieser brachte Lichtsäulen, Duftöle, Musik oder mit einem Projektor an die Decke geworfene amüsante Muster mit.

Das alles waren zuerst Notlösungen, doch manches stellte sich als richtig gut heraus. Bei den Fußpflegesitzungen erfuhr Hirschi beispielsweise unglaublich viel über die Bewohner. In der Situation zu zweit erzählten sie viel aus ihrem Leben und auch über ihre Ängste in der Corona-Situation. "Es entstand eine ganz neue Nähe", sagt er. "Und die ist bis heute erhalten geblieben." Durch die gemeinsam erlebte Not, das gemeinsame Gefangensein in einer skurrilen Lage, kamen sich sowohl Pflegekräfte und Bewohner als auch das gesamte Team sehr nahe, versichern alle.

Natürlich gab es schreckliche Dinge. Etwa die Tage, an denen man eine positiv getestete Bewohnerin hatte. Sofort wurde eine Schleuse zum Zimmer eingerichtet, die Betreuer gingen nur noch in voller Schutzausrüstung hinein. Doch die Frau entwickelte überhaupt keine Symptome. Somit konnte man sie nach vier Tagen und zwei weiteren negativen Tests aus ihrer bedrückenden Lage befreien. Schlimm war natürlich auch, dass Angehörige zu ihren sterbenden Müttern oder Vätern nur in voller Schutzausrüstung und mit Maske durften. Bedrückend ist auch, dass noch immer das Abstandsgebot gilt, also die Besucher zwar in die Zimmer der Bewohner dürfen, dort aber 1,50 Meter entfernt bleiben sollen, sich nicht umarmen, nicht die Hand halten können.

Besonders schlimm war die Entwicklung für die schwer Dementen. Sie erkannten nach den zwei Monaten ihre Kinder nicht mehr, erst recht nicht, weil diese plötzlich mit Maske vor ihnen standen. Eine Trennung, die nicht rückgängig zu machen ist. Es war eine schreckliche Zeit und ist noch immer belastend. Danjela Budimir etwa findet es schlimm, dass sich jetzt 90-Jährige oder 100-Jährige beim Personal abmelden müssen wie Minderjährige bei ihren Eltern. "Ich hoffe für uns alle, dass es bald vorbei ist und die Bewohner wieder über sich selbst bestimmen können", sagt sie. "Selbstbestimmung ist ja in unseren Leitlinien verankert", fügt Makosch hinzu. Und es ist ihnen ein Anliegen, dass die Bewohner in ihrer letzten Lebensphase entsprechend leben können.

Auch in der Parkresidenz Hermine Held in Grünwald machte man sich neben den logistischen Notwendigkeiten aufgrund der Hygieneverordnungen Gedanken über die Frage: "Was macht das mit unseren Bewohnern?" 110 Plätze gibt es im Pflegeheim, dazu kommen 18 rüstige Rentner, die in einem eigenen Trakt leben. Vor allem für Letztere war es schlimm, sagt Heimleiterin Heidi Sogawe. Diese sind sonst immer unterwegs im Ort, in Cafés oder zu Treffen mit Bekannten. Immerhin blieb eines die ganze Zeit erhalten, auch in der harten Phase: das gemeinsame Essen im Speisesaal. Natürlich mit neuem Abstand der Tische und Plätze. Auch hier, ebenso wie im Haus am Wiesenweg, wurde Skype eingerichtet, damit die Bewohner ihre Angehörigen wenigstens auf dem Bildschirm sehen konnten. Besonders häufig sei es nicht in Anspruch genommen worden, sagt Sogawe. Es war wohl doch zu ungewöhnlich.

Auch jetzt noch haben die Mitarbeiter einen Konflikt, der sie von Anfang an beschäftigt hat: der zwischen ihren eigenen Gefühlen und der notwendigen Hygieneverordnung. "Es tut uns auch weh, zu jemandem sagen zu müssen: Sie dürfen Ihre Mama nicht umarmen." Das nämlich gilt immer noch, vorerst bis Mitte August. Die Besucher, die jetzt in die Zimmer der Bewohner dürfen, müssen von Betreuern immer wieder kontrolliert werden.

Das Heimleben aber ist schon wieder schöner geworden: Es gibt Yoga im Garten und Trommelvorführungen. Das tut allen gut, denen noch der Schreck der totenstillen Zeit in den Knochen sitzt. "Ich bin sicher, dass auch die Dementen genau gespürt haben, dass etwas anders war. Sie erfassen Stimmungen und Gefühle", sagt Sogawe. "Alles war stillgelegt, eine komplette Wandlung des Lebens hier. Denn sonst waren immer Besucher im Haus unterwegs." Sogawe hofft jetzt vor allem eins: "Bitte keine zweite Welle."

© SZ vom 31.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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