Eklat vor Gericht:"Mehrfach aggressiv, verbal ungezügelt und ohne Anlass"

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Schauplatz des Prozesses, bei dem sich ein Arzt verantworten muss: das Strafjustizzentrum an der Nymphenburger Straße. (Foto: Robert Haas)

Ein Rechtsanwalt soll eine Richterin bei einer Verhandlung im August 2020 mehrfach wüst beschimpft haben. Die Verteidigung hat den Vorfall heimlich gefilmt - und die Mitschnitte dienen nun als Beweismittel.

Von Andreas Salch

"Ich kann nicht atmen, hilfe, hilfe, hilfe!" Minutenlang schreit der Rechtsanwalt Christian R. am Nachmittag des 18. August des vergangenen Jahres im Sitzungssaal B 173 im Strafjustizzentrum in der Nymphenburger Straße herum. Mehrere Justizwachtmeister haben ihn gerade während einer Verhandlung unmittelbar vor dem Richtertisch mit Gewalt zu Boden gebracht. Die Beamten fixieren R.s Hände mit Handschellen auf dem Rücken und zerren ihn vor den Sitzungssaal.

Es sind Szenen, wie sie sich so noch nie in einer Verhandlung vor dem Landgericht München I zugetragen haben. Ein bisher nie dagewesener Eklat, der heimlich von der Verteidigung auf zwei Videos dokumentiert wurde. Da das Gerichtsverfassungsgesetz Ton- und Bildaufnahmen aus einem laufenden Verfahren aber strikt verbietet, wurde der Mitschnitt beschlagnahmt. An diesem Mittwoch allerdings sind die Aufnahmen nun "Beweismittel" in einem Prozess vor dem Amtsgericht und werden in fast voller Länge gezeigt. Auf der Anklagebank sitzt Rechtsanwalt Christian R. Er trägt Robe.

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Nach dem Eklat in der Verhandlung vom August 2020 hatte die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht den Erlass eines Strafbefehls gegen den 54-jährigen Rechtsanwalt beantragt. Darin wird R. unter anderem vorgeworfen, er habe in jenem Prozess, in dem er mit seinem Kollegen Rechtsanwalt Alexander Betz einen wegen Kindesmissbrauchs angeklagten Familienvater verteidigt, die Vorsitzende Richterin Sigrun Broßardt sowie die zwei Vertreter der Staatsanwaltschaft mehrfach massiv beleidigt. Zehn Monate Haft auf Bewährung sieht der Strafbefehl dafür vor.

Doch Christian R. hat Einspruch eingelegt. Deshalb kommt es nun zu einer Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht. Verfahren wegen Beleidigungen gehören dort zum Sitzungsalltag und sind meist schnell erledigt. Nicht so jedoch in diesem Fall. Für das Verfahren gegen Christian R. hat Richterin Gertraud Bachmann vier Verhandlungstage anberaumt.

Christian R. habe die Richterin als "geistig krank und nicht in der Lage zur Berufsausübung bezeichnet"

Der Prozess wegen des mutmaßlichen Kindesmissbrauchs, in dem es zu den Beleidigungen gekommen sein soll, begann Anfang Mai 2020. Ein Urteil fiel nicht, da die Vorsitzende Richterin Sigrun Broßardt noch vor dem Abschluss des laufenden Verfahrens in Pension ging. Ende November 2020 wurde das Verfahren deshalb noch einmal neu aufgerufen. Auf der Verteidigerseite steht unter anderem auch wieder Christian R. Ein Urteil steht noch aus.

In dem vom Amtsgericht erlassenen Strafbefehl wird R. vorgeworfen, er habe von Anfang an versucht, das erste Verfahren unter dem Vorsitz von Richterin Broßardt zu "verschleppen". Dem Angeklagten sei es darum gegangen, "eine Stimmung zu schaffen, in der eine sachliche Verhandlung nicht möglich war". Christian R. habe die Richterin "durch verschiedenste Umschreibungen und Wortwahlen als geistig krank und nicht in der Lage zur Berufsausübung bezeichnet".

Auch die Vertreter der Staatsanwaltschaft soll der Rechtsanwalt in dem Prozess "mehrfach aggressiv, verbal ungezügelt und ohne Anlass" attackiert haben - und zwar stets "in brüllendem beziehungsweise laut schreiendem, unsachlichen Tonfall".

Doch gebrüllt hat - zumindest in der Verhandlung vom 18. August 2020 - nicht nur Christian R., sondern auch ein Gruppenleiter der Staatsanwaltschaft am Landgericht München I, der damals seine Kollegin unterstützte. Zu sehen und vor allem zu hören ist der Anklagevertreter auf den beiden heimlich aufgenommen Videos.

Die Aufnahmen machten ihn "fassungslos", erklärte Rechtsanwalt Friedrich Fülscher, nachdem Richterin Bachmann die Mitschnitte gezeigt hatte. Er frage sich, warum seinem Mandanten, obwohl er eine Schutzmaske getragen habe, vorgeworfen werde, nicht den Corona-Mindestabstand zur Vorsitzenden Richterin eingehalten zu haben - während die beiden Vertreter der Staatsanwaltschaft eng nebeneinander saßen und keinen Mund-Nasenschutz trugen. Dass Richterin Broßardt "einfach weiterverhandelt" habe, während sein Kollege gefesselt vor dem Richtertisch lag, sei "unfassbar".

Rechtsanwalt Alexander Stevens, der mit Philip Müller ebenso zu den Verteidigern von R. zählt, empörte sich, dass der Staatsanwalt, nachdem R. von dem Justizwachtmeister zu Boden gebracht worden war und schrie, er könne nicht mehr atmen, hämisch angemerkt habe: "Schreien können Sie noch." Der Anklagevertreter habe eine "Siegerpose" angenommen und gelacht, entrüstete sich Rechtsanwalt Müller. Er habe den Eindruck, der Staatsanwalt habe an jenem 18. August nur an dem Verfahren teilgenommen, "um immer aufs Neue zu provozieren".

© SZ vom 01.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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