Migrantinnen mit behinderten Kindern:Wäsche waschen, einkaufen, putzen - alles in Maksims Gegenwart kaum möglich

Lesezeit: 6 min

Julia Ieremenko aus der Ukraine mit ihrem behinderten Sohn Maksim. (Foto: Catherina Hess)

Julia Ieromenko ist mit ihren Söhnen aus der Ukraine geflohen. Sie muss ihr Leben neu aufbauen - und sich zugleich um Sohn Maksim kümmern, der schwerbehindert ist. Spezielle Unterstützung gibt es für solche Fälle bislang nicht. Über einen Neuanfang mit Hürden.

Von Marlene Jacobsen

In Julia Ieromenkos Hosentaschen klimpert es. Sie trägt immer mehrere Schlüsselbunde bei sich, für alle Fenster und Türen in ihrer Wohnung. Der Kühlschrank ist mit einem Zahlenschloss verriegelt. Und um den Herd anzumachen, muss sie erst einige Schalter im Stromkasten umlegen. Jetzt greift sie in ihre Hosentasche und geht in schnellen Schritten auf ihren Sohn zu. Der könnte ohne die Sicherheitsvorkehrungen in der Wohnung jederzeit Putzmittel trinken, sich gefährlich weit aus dem Fenster lehnen oder sich am Herd verbrennen.

Maksim ist elf und schwerbehindert. Im März 2022 floh er mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder vor Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. In Charkiw leitete Julia Ieromenko einen Verlag für Kinderbücher und Lernmaterialien, Maksim ging auf eine private Förderschule. Die Nachmittage verbrachte er oft bei seiner Oma oder in Therapie. Nun muss die 43-jährige Mutter fast jede Sekunde ihren Sohn im Auge behalten und sich zugleich ein neues Leben aufbauen. Wie bewältigt sie ihren Alltag? Und ist der bayerische Staat ihr dabei eine Hilfe oder ein Hindernis?

In der neuen Wohnung in München klopft Maksim interessiert auf den Laptop seines Bruders und versucht zum vierten Mal innerhalb weniger Minuten, das Gerät vom Tisch zu heben. Davon hat Julia Ieromenko genug: Sie entreißt Maksim den Laptop, legt ihn unter eine Kommode im Eingangsbereich und schließt die Wohnzimmertür zu. "So was kann schnell schiefgehen", erzählt seine Mama. "Einmal habe ich ihm ein Tablet zur Übung gegeben und innerhalb einer Woche war es kaputt."

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Maksims offizielle Diagnose ist Autismus, doch die zweifelt seine Mutter an. Sie vermutet, dass verschiedene Krankheiten, auch psychische, zusammenwirken. Die Flucht habe Maksim in seiner Entwicklung deutlich zurückgeworfen. "Als wir noch in der Ukraine waren, hatte Maksim die geistigen Fähigkeiten eines Vierjährigen. Jetzt ist er auf dem Niveau eines Anderthalb- bis Zweijährigen", sagt Julia Ieromenko.

Als die Ieromenkos Charkiw verließen, wollten sie einfach nur weg - egal, ob in die Schweiz, nach Tschechien oder Moldawien. Julia bat etliche Bekannte um Hilfe, darunter auch eine Freundin, deren Tochter in München studiert und ihnen kurzfristig eine Unterkunft vermitteln konnte. In der Nähe von Lviv holten Freiwillige die Familie mit dem Auto ab. Nach einer stundenlangen Fahrt durch die Nacht erreichten sie München ausgerechnet an Maksims zehnten Geburtstag.

Doch das Datum fiel seiner Mutter erst abends auf. "Wir waren so erschöpft, dass die Zeit uns wie stehen geblieben vorkam", erinnert sie sich. Die folgenden sechs Wochen kamen die Ieromenkos bei einer engagierten Münchnerin unter, die sie bei Behördengängen begleitete und Arzttermine für Maksim organisierte. Julia Ieromenko sei ihr enorm dankbar. "Sie war unsere Rettung."

Trotz der Starthilfe gab es Hürden: "Es war extrem schwierig, einen Schulplatz für Maksim zu finden." Anfangs konnte er nur zwei Stunden am Tag in die Förderschule gehen, mittlerweile sind es vier. Immerhin so weit funktioniert das Schulsystem für die beiden. Doch seine Mutter fühlt sich kaum entlastet. "Die paar Stunden reichen für nichts." Julia Ieromenko redet schneller, als sie auflistet, was sie in der Zeit alles erledigen muss. Wäsche waschen, einkaufen, putzen - alles Dinge, die in Maksims Gegenwart kaum möglich sind.

Zu einer Sprachschule zu fahren und sich mehrere Stunden dem Deutschlernen zu widmen, dafür sei einfach keine Zeit. Auf das Niveau A2 ist sie trotz allem schon gekommen. Die Gelegenheit, mit Deutschen zu üben, hat sie kaum. Es sei denn, Maksims Verhalten sorgt mal wieder für empörte Blicke, wenn er beim Einkaufen alles anfasst oder in der Tram auf die Scheibe schlägt. "Entschuldigung, mein Sohn ist behindert", rattert seine Mama dann herunter. Wie automatisiert.

Wenn die Menschen ihre Blicke wieder abwenden, ist Julia vor allem eines: unsichtbar. Denn sie existiert an der Schnittstelle dreier gesellschaftlicher Gruppen, deren Perspektiven in öffentlichen Debatten wenig Gewicht haben. Sie ist eine alleinerziehende Mutter. Sie ist geflüchtet. Und sie leistet Care-Arbeit für ihr Kind mit Behinderung. Schätzungen zufolge haben 15 Prozent der Geflüchteten eine Behinderung oder eine chronische Krankheit. So genau weiß man das nicht, denn bei der Ankunft Geflüchteter in Deutschland wird nicht registriert, ob diese eine Behinderung haben. Das erschwert der Politik den Überblick darüber, wer in einer ähnlichen Situation wie Julia Ieromenko und Maksim ist.

Durchatmen kann die Mutter nur, wenn Maksims älterer Bruder Vova einspringt. Der 21-Jährige führt sein Informatikstudium, das er in Charkiw begonnen hatte, online fort. "Er musste schon mal seine Vorlesung schwänzen, um Maksim von der Schule abzuholen", gibt Julia Ieromenko zu. "Da hatte ich Schuldgefühle." Während sie erzählt, spielt Maksim mit einem ihrer Schlüsselbunde und quietscht vergnügt. Klyuch, russisch für "Schlüssel", ist eines der wenigen Wörter, die Maksim trotz seiner Spracheinschränkungen immer wieder sagt. Der Vater der beiden Jungs ist in Charkiw geblieben. Als Angehöriger eines behinderten Kindes hätte er trotz des Kriegszustands das Land verlassen dürfen. Aber er wollte seinen sicheren Job in der Gasproduktion nicht aufgeben. Die Trennung von seinem Vater macht Maksim schwer zu schaffen. Sie telefonieren jeden Abend per Video. "In der Ukraine hatten wir die Unterstützung der ganzen Familie. Hier sind wir auf uns allein gestellt", erzählt Ieromenko.

Geflüchteten mit behinderten Kindern bleibt oft wenig Zeit für die eigene Integration

Gleichgesinnte hat sie bei "Die Sputniks" gefunden, genauer in der russischsprachigen Selbsthilfegruppe "Autismus Sputnik-München" für Eltern von Kindern mit Behinderungen. An diesem Samstagvormittag plaudern etwa fünfzehn Mitglieder bei Kaffee und Tee im Münchener Selbsthilfezentrum, während sie auf den Start des heutigen Vortrags warten. Hier gibt es andere Mütter, die Julia Ieromenko verstehen. Und das nicht nur, weil sie die gleiche Sprache sprechen. Mütter wie Amina Leonova. Die Frau mit den schwarzen Haaren und der eckigen Brille, ebenfalls aus Charkiw, machte sich direkt nach Kriegsbeginn mit ihrem Sohn Illia sowie ihrem Bruder und dessen Kindern auf den Weg nach Deutschland. Sechs Tage dauerte das mit Auto, Zug und Bus. Unterwegs mussten sie oft anhalten, denn der 17-jährige Illia hat Epilepsie. "Er hatte natürlich Angst und das verschlimmerte seine Anfälle", erinnert sich Amina Leonova. Während der Flucht hatte er Hunderte Epilepsieanfälle; viel mehr, als Amina Leonova habe zählen können.

In München war Illia anfangs in sich gekehrt, aber "Die Sputniks" haben ihm gutgetan. "Hier ist er richtig aufgegangen. Er liebt die Kinder und hilft bei allem", erzählt Amina Leonova strahlend. Heute ist nur ein Kind dabei, ein kleines Mädchen mit Downsyndrom, das in rosa Gummistiefeln fröhlich durch den Raum läuft. Leonova nimmt sie auf den Schoß und singt für sie. "Mit der Schule haben wir Glück", erzählt sie weiter. Zusätzlich zur Epilepsie hat Illia eine Entwicklungsverzögerung und geht deshalb auf eine Förderschule. Er geht gerne hin und kann jeden Tag bis 17 Uhr bleiben. Das ist eine Erleichterung für seine Mutter, wären da nicht die vielen Arzttermine, zu denen sie ihn begleiten muss. Diesen Monat steht die B1-Deutschprüfung für Amina Leonova an. "Aber es kann gut sein, dass ich nicht bestehen werde." Wegen der Arzttermine habe sie viele Fehlstunden im Sprachkurs.

Ginge es nach Julia Ieromenko, würde auch Maksim die Nachmittage in seiner Schule verbringen. Seit Monaten wartet sie auf einen Platz in der Nachmittagsbetreuung und wird immer wieder vertröstet. "Maksim liebt die Schule", erzählt sie. "Aber sie hat einfach nicht genug Personal." Dabei bekommt Maksim schon persönliche Assistenz. Doch wenn einer seiner drei Betreuer krank ist, die ihn abwechselnd im Unterricht unterstützen und auf dem Schul- und Nachhauseweg begleiten, muss er zu Hause bleiben. An solchen Tagen hat Julia Ieromenko keinen Moment für sich. Egal, ob es darum geht, einen Betreuer für die Ferienzeit, einen Therapieplatz für Maksim oder einen festen Sozialarbeiter für die Familie zu organisieren - seine Mutter ist fest entschlossen: "Ich will mich um diese Dinge kümmern." Doch der deutsche Bürokratie-Dschungel macht es ihr nicht leicht. "Ich weiß einfach nicht, an wen ich mich wenden soll."

Was sagen die politischen Verantwortlichen dazu? Ein Anruf bei dem Bayerischen Integrationsbeauftragten Karl Straub zeigt: Auch er sieht in der Bürokratie ein Hindernis für Geflüchtete. "Da wollen wir ran, damit es für alle einfacher wird." Dennoch ist die Situation der Familie für ihn ein Sonderfall. "Daraus sollten wir Schlüsse ziehen, um die Gesamtsituation zu verbessern und zu erörtern, ob ein systemisches Problem besteht", sagt Straub. Er bietet an, sich des Falls anzunehmen und gegebenenfalls mit dem Bayerischen Behindertenbeauftragten, Holger Kiesel, zusammenzuarbeiten.

Aus dessen Büro heißt es auf die Frage, welche Angebote es zur Unterstützung geflüchteter Familien von Kindern mit Behinderungen gibt: "Spezifische staatliche Programme hierzu sind uns nicht bekannt." Stattdessen springt die Zivilgesellschaft ein. Marina Moiseeva, Geschäftsführerin der bayerischen Filiale von "Die Sputniks", kennt all die "ungünstigen Faktoren", die bei Julia zusammenkommen: Sprachbarrieren, eine mangelnde Kenntnis ihrer Rechte und die Schwere von Maksims Behinderung. Dadurch treffe Julia Ieromenko ein Problem noch härter, das auch deutsche Familien haben. Einen Platz in der Nachmittagsbetreuung einer Förderschule zu bekommen, dauere oft länger als ein Jahr.

Solange das Warten anhält, verbringen Mutter und Sohn ihre Nachmittage mit langen Spaziergängen, täglich drei bis vier Stunden. Das ist wichtig für beide, denn Maksim ist voller Energie. In den Maximiliansanlagen läuft er noch brav an der Hand seiner Mutter. Auf der Straße reißt er sich plötzlich von ihr los und versucht, die Tür eines parkenden Autos zu öffnen. "Es wird langsam schwer für mich, auf ihn aufzupassen, weil er immer stärker wird", sagt Julia Ieromenko und zieht Maksim enger an sich. Auch deshalb wünscht sie sich, dass ihr Mann zu ihnen nach München kommt.

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