Gedenkakt:"Die schiere Anzahl der Opfer ist erdrückend"

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Auf dem Friedhof am Perlacher Forst wird die neu gestaltete Gedenkstätte eingeweiht. (Foto: Friedrich Bungert)

Auf dem Friedhof am Perlacher Forst ist der Ehrenhain neu gestaltet worden. Er erinnert an 3996 Opfer von NS-Verbrechen. Nicht von allen sind die Namen bekannt - doch die Forschung nach ihnen geht weiter.

Von Martin Bernstein, München

Der kommunistische Widerstandskämpfer und der katholische Priester, der in einer Gaskammer ermordete Sechsjährige aus Mühldorf und der 20-Jährige jüdische Landarbeiter aus Prag: Ihre Namen - und die von weiteren knapp 4000 Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft - zeigt ein neues Mahnmal in München. Am Mittwoch ist der umgestaltete Ehrenhain auf dem Friedhof am Perlacher Forst eingeweiht worden, am 1. September, an dem sich der deutsche Überfall auf Polen zum 82. Mal jährt.

"Ich komme aus Danzig", sagte der polnische Kulturstaatssekretär Jaroslaw Sellin beim Festakt an der neu geschaffenen KZ-Gedenkstätte. Bisher habe er am 1. September immer an den Gedenkfeiern auf der Westerplatte teilgenommen, dem Ort, an dem mit dem deutschen Angriff der Zweite Weltkrieg begann. "Heute bin ich hier." Die von der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, dem polnischen Generalkonsulat und der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung gemeinsam geplante und mit Hilfe von Stadt München und Denkmalschutz verwirklichte Gedenkstätte sei "ein sehr wichtiges Zeugnis polnischer Geschichte". Aus dem ursprünglichen Hain, auf dessen Bedeutung nur ein unscheinbarer Gedenkstein hingewiesen habe, sei "ein ehrenvoller Platz" geworden. Sellin erinnerte an die sechs Millionen polnischen Opfer des Weltkriegs und der NS-Herrschaft, jedes zweite von ihnen jüdischer Herkunft. "Die Vergangenheit soll uns eine Lehre sein."

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Landtagsvizepräsident Karl Freller (CSU), Direktor der bayerischen Gedenkstättenstiftung, erinnerte stellvertretend für die 3972 namentlich bekannten Menschen, die im Ehrenhain begraben sind, an Valentin Greis, Mitglied einer KPD-Untergrundgruppe, der 1941 im Konzentrationslager Dachau ums Leben gebracht wurde; an den jüdischen Widerstandskämpfer Hermann Gottschalk, der 1937 unmittelbar nach seiner Einlieferung ins KZ ermordet wurde; an Johann Desch, ein Zeuge Jehovas aus Maurach am Achensee, den die Nazis im August 1940 verhungern ließen, weil er sich geweigert hatte, in den Krieg ziehen; an den im Januar 1941 getöteten jüdischen Landarbeiter Eisik Davidovic; und an den wegen seiner Behinderung in der Gaskammer von Hartheim ermordeten Buben Josef Konrad Schleich aus einem Pflegeheim bei Mühldorf.

Der ursprüngliche Ehrenhain war 1950 von der Stadt München errichtet worden. Unter den 44 Grabplatten befinden sich Urnen mit der Asche von 3996 NS-Opfern. Die Urnen mit den sterblichen Überresten von mehr als 3000 Gefangenen des KZ Dachau waren nach Kriegsende im Krematorium des Münchner Ostfriedhofs entdeckt worden. Auch die Asche von KZ-Opfern aus den Konzentrationslagern Auschwitz, Buchenwald, Mauthausen und Flossenbürg sowie von Menschen, die in den Tötungsanstalten Sonnenstein, Bernburg, Grafeneck und Hartheim ermordet worden waren, wurden am Ort beigesetzt. Mehr als 2000 der am Perlacher Forst bestatteten Opfer waren polnische Bürger.

"Die schiere Anzahl der Opfer ist erdrückend", sagte Karl Freller. "Sie lähmt und macht betroffen, gibt uns aber nur einen scheinbaren Eindruck von der Dimension der NS-Verbrechen." Das Individuum bleibe dahinter unscharf. "Es bleibt die Frage: Wer waren diese Frauen und Männer?" Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter waren unter ihnen, Männer, Frauen und Kinder, Menschen aus insgesamt 17 Nationen, Juden, Sinti und Roma, Menschen, die wegen ihres Glaubens oder ihrer Homosexualität verfolgt wurden - oder weil sie als "asozial" oder "lebensunwert" galten.

Stilles Gedenken: Zwölf Glastafeln auf dem Friedhof am Perlacher Forst tragen die Namen von 3972 Opfern, 24 sind unbekannt. (Foto: Friedrich Bungert)

Glastafeln mit den Lebensdaten der identifizierten Opfer im Zentrum des Lindenhains sollen diesen Menschen "ihre einst geraubten und durch Häftlingsnummern ersetzten Namen zurückgeben, sie aus der Anonymität holen". Menschen, die bisher nicht im Gedächtnis der Stadt verankert gewesen seien, wie Stadtrat Manuel Pretzl (CSU) als Vertreter des Oberbürgermeisters betonte. Er versprach, man werde weiter forschen, um auch die Namen der 24 bislang noch nicht identifizierten Toten dem Vergessen zu entreißen.

Gleich neben der neuen KZ-Gedenkstätte erinnert eine Tafel an 94 Menschen, die im nahen Gefängnis Stadelheim von den Nationalsozialisten aus politischen Gründen ermordet wurden. Auch die Mitglieder der Widerstandsgruppen "Weiße Rose" und "Freiheitsaktion Bayern" sind im Friedhof am Perlacher Forst beerdigt. Ein Mahnmal erinnert zudem an 1192 Verschleppte, an Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Der Friedhof ist - mit den Worten von Jaroslaw Sellin - "ein Ort des Nachdenkens über die schwierige Geschichte."

Wie schwierig diese Geschichte ist, zeigt sich 200 Meter von der neuen KZ-Gedenkstätte entfernt in einer versteckten Ecke: Neun polnische Soldaten sind dort begraben, unter ihnen Angehörige der "Heiligkreuz"-Brigade, einer Widerstandsgruppe, die aber auch mit Nazis kollaboriert haben und an Judenverfolgungen beteiligt gewesen sein soll - und die andererseits bei Kriegsende auf der Flucht nach Westen jüdische Frauen aus einem KZ befreite. Als Polens Premierminister Mateusz Morawiecki vor drei Jahren am Gedenkstein einen Kranz niederlegte, löste das eine internationale Kontroverse aus.

© SZ vom 02.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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