Videokampagne:"Gewalt gegen Frauen geht alle etwas an"

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Eine ungewöhnliche Initiative des Frauennotrufs München soll es Opfern erleichtern, über ihre Qualen offener zu sprechen - und gleichzeitig die Gesellschaft aufrütteln.

Von Thomas Anlauf

Es sind verstörende Videoclips. Frauen erzählen darin, wie sie vergewaltigt worden sind. Sexualisierte Gewalt sei immer noch ein Tabuthema, sagt Maike Bublitz, die Geschäftsführerin des Münchner Frauennotrufs. Mit der Kampagne "Speakup", die seit einigen Tagen auf Instagram und Facebook läuft , soll dafür sensibilisiert werden, wie Frauen damit umgehen und darunter leiden, vergewaltigt worden zu sein.

SZ: Frau Bublitz, Sie sagen, sexualisierte Gewalt ist noch immer ein Tabuthema. Dabei ist jede siebte Frau in Deutschland Opfer einer strafbaren Sexualtat geworden - das sind statistisch gesehen mehr als einhunderttausend Münchnerinnen. Wie passt das zusammen?

Maike Bublitz: Die Zahlen sind natürlich eklatant. Wir sagen bewusst: Nicht die Gewalt ist ein Tabu, sondern, darüber zu sprechen. Es gibt viele Gründe für Frauen, nicht darüber zu reden. Viele Frauen schämen sich, weil es ihre Intimsphäre betrifft. Dazu kommen die bekannten Mythen: Wer Minirock trägt, ist vermeintlich selbst schuld. Oft wird ihnen eine Vergewaltigung auch nicht geglaubt, stattdessen kriegen sie Vorwürfe. Frauennotrufe kämpfen zwar seit Jahrzehnten dagegen an, aber das hat offenbar nicht gewirkt. Mit der Kampagne wollen wir genau da die Finger in die Wunde legen.

Etwa die Hälfte der Opfer von sexualisierter Gewalt spricht nicht darüber. In der Kampagne "Speakup" reden Betroffene schonungslos und offen darüber, was ihnen widerfahren ist.

Das stimmt. Wenn so viele Frauen nicht darüber reden können, müssen andere laut werden. "Speakup" soll zu einem Movement werden, um Betroffene zu stärken und die Gesellschaft aufzurütteln. Jede siebte Frau ist von sexualisierter Gewalt betroffen. Das heißt, jede Person kann davon ausgehen, dass sie mindestens eine Frau im unmittelbaren Umfeld hat, die schweigt. Eine der Frauen, die sich "Speakup" bereits angeschlossen hat, hatte vorher mit niemandem darüber gesprochen. Sie hat daraufhin viele Rückmeldungen bekommen von Bekannten, die auch betroffen sind und ebenfalls niemandem davon erzählt hatten. Wir wollen erreichen, dass es Frauen erleichtert wird, darüber zu sprechen.

Für Frauen, die zu Ihnen in den Frauennotruf kommen, hilft es sicherlich, im geschützten Raum über ihre Qualen zu sprechen. Aber vor laufender Kamera?

Wir merken ja, wie schwierig es ist, darüber zu reden. Je mehr sexualisierte Gewalt von allen zum Thema gemacht wird, desto weniger schambehaftet wird es für die Frauen, sich jemandem anzuvertrauen. Darüber zu reden ist ein Schritt nach vorne, ein Empowerment. Jede Betroffene soll dabei selber entscheiden können, ob sie darüber spricht, mit wem sie spricht und zu welchem Zeitpunkt sie das tut.

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Vier von fünf Frauen, die Opfer von sexualisierter Gewalt sind, leiden unter den psychischen Folgen: Depression, Schuld- oder Schamgefühle, Schlafstörungen, mangelndes Selbstwertgefühl. Wie können Sie ihnen im Frauennotruf helfen?

Nach einer traumatischen Gewalterfahrung reagieren Betroffene ganz unterschiedlich. Wir bieten individuell abgestimmte Traumaberatung und Traumatherapie an und weitere stabilisierende und stärkende Angebote. Wir unterstützen die Frauen auf Wunsch auch bei Anzeigenerstattung und begleiten sie durch das Gerichtsverfahren. Bei allen Schritten und Angeboten stehen die Selbstwirksamkeit und das Zurückgewinnen von Kontrolle an oberster Stelle.

Wichtig ist ja auch präventive Aufklärung etwa an Schulen und in Sportvereinen. Wie ist denn die aktuelle Situation in München?

Es gibt in München zahlreiche gute und wichtige Präventionsangebote für Kinder und Jugendliche. Gezielte Präventionsangebote reichen aber bei weitem nicht aus, um langfristig etwas in der Gesellschaft zu verändern. Gewalt gegen Frauen hat etwas mit stereotypen Geschlechter- und Rollenbildern zu tun. Männlichkeit wird mit Stärke, Mut und dominant sein assoziiert, Weiblichkeit mit "lieb sein, immer lächeln, nicht laut sein". Diese toxischen Rollenbilder werden schon früh erlernt und weitergegeben. Es braucht einfach eine gesellschaftliche Debatte über diese Rollenbilder, die Gewalt von Männern gegenüber Frauen fördern. Stereotype müssen aufgelöst werden. Das sollte im besten Fall auch zu Hause gelebt werden. Vor allem aber braucht es Verständnis über das Ausmaß von sexualisierter Gewalt in Deutschland. "Speakup" fordert alle Menschen auf, hinzusehen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und sich zu positionieren. Gewalt gegen Frauen geht alle etwas an. Darüber zu sprechen auch.

https://speakupmovement.de/

© SZ vom 05.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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