Serie "München erlesen" (Folge 36):Die Zukunft von gestern ist die Hölle von heute

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Herbert Rosendorfer bei einer Lesung 2006 in Dachau. Der Richter und Schriftsteller starb 2012. (Foto: Toni Heigl)

Herbert Rosendorfer skizzierte 1983 in seinem Millionen-Seller "Briefe in die chinesische Vergangenheit" humorvoll eine düstere Gegenwart von "Min-chen", die derzeit überaus hellsichtig erscheint.

Von Florian Welle, München

Die Kugelgestalt der Erde ist schuld daran, dass Kao-tai auf seiner Zeitreise zwar in der Zukunft landet. Aber nicht, wie geplant, in der seiner chinesischen Heimat. Was der Mandarin und Präfekt der kaiserlichen Dichtergilde "Neunundzwanzig moosbewachsene Felswände" aus dem 10. Jahrhundert zunächst für den "Kanal der blauen Glocken" von Kaifeng hält, stellt sich als der Nymphenburger Kanal heraus. Also "Ba Yan" statt China, "Min-chen" statt der Hauptstadt der Song-Dynastie. Bei seinen Berechnungen für den "Zeit-Reise-Kompass" ging Kao-tai selbstverständlich noch von der Erde als einer Scheibe aus.

Die Folge ist ein Kulturschock, der für den stolzen Mandarin und überzeugten Konfuzianer größer nicht sein könnte. In 37 Briefen berichtet er seinem treuen Freund Dji-gu von seinen Erfahrungen in der Welt der Münchner "Großnasen" der frühen 1980er-Jahre. Dabei ist alles, was er schreibt, mehr oder weniger eine Variante seines ersten Eindrucks: "Die Zukunft ist ein Abgrund." Kao-tai sieht sich mit einer rast-, ruhe- und glanzlosen Stadt konfrontiert. Überall ist Schmutz, dröhnt der Lärm. Autos verpesten die Luft, anstatt Natur dominiert Beton. Die Einwohner, bei denen "Geschmack und Zurückhaltung (...) rar" sind, hetzen herum, und wenn sie reden, brüllen sie. Der Chinese hatte sich aufgemacht, um "die Zukunft zu studieren", und findet sich "in der Hölle" wieder.

"Briefe in die chinesische Vergangenheit" ist der bekannteste Roman des 2012 im Alter von 78 Jahren in Bozen gestorbenen Juristen und Schriftstellers Herbert Rosendorfer. Das 1983 erschienene Buch ist bei genauer Betrachtung eine zivilisationskritische Suada, die ihresgleichen sucht. Ihr enormer Erfolg bei einem Millionenpublikum ist wohl nur damit zu erklären, dass Rosendorfer gleichzeitig ein großer Humorist war, der es verstand, seine endzeitliche Botschaft mitunter sehr charmant zu ummänteln. Man schmunzelt über Kao-tais Anverwandlung der fremden Sprache von "A-tao-Wägen" bis "Shai-we-ta". Bedauert ihn, weil er nirgends Hund zu essen bekommt. Amüsiert sich über seine Höflichkeitsgesten, wobei er penibel zwischen einer "Viertel-" und einer "Drei-Viertel-Verbeugung" unterscheidet, was beim Gegenüber natürlich Verwunderung auslöst und zu slapstickhaften Missverständnissen führt.

Vorweggenommen ist die Wachstums-Kritik der "Fridays for Future"-Bewegung

Im Grunde aber macht sich Kao-tai keinerlei Illusionen über das weitere Schicksal der Menschheit. Die "Briefe" haben die Bedrohungen der damaligen Zeit zum Hintergrund. Es fällt nicht nur saurer Regen, sondern auch die Gefahr eines Atomkriegs zwischen "Am-mei-ka" und den "Lu-sen" liegt in der Luft. Tempi passati? Das glaubte man bis vor Kurzem. Auf einmal aber klingen Sätze wie "Heute könnten sie ganze Länder mit einem Schlag auslöschen (...) Nur ausprobiert haben sie es nicht - noch nicht" wieder erschreckend aktuell. Genauso wie die Passage, dass wir die "Zukunft aufgebraucht haben, ehe sie kommt", die Wachstums-Kritik der "Fridays for Future"-Bewegung vorwegnimmt.

Herbert Rosendorfer war Menschenfreund und -feind zugleich. In einem Interview sagte er: "Ich liebe im Großen und Ganzen jeden einzelnen Menschen, den ich näher kennenlerne, mit Ausnahmen. Aber die Menschheit insgesamt betrachte ich doch ein bisschen als Ungeziefer, weil sie die Welt, unsere Erde, zerstört." Geboren 1934 in Gries bei Bozen, kam er 1939 mit den Eltern nach München und wuchs in der Au auf, damals noch ein Viertel der kleinen Leute. Ihnen sollte er später in dem Erzählungsband "Absterbende Gemütlichkeit" huldigen.

Rosendorfer studierte Jura und war von 1969 bis 1993 Amtsrichter in München, danach noch eine Zeit lang Richter in Naumburg. Sein Brotberuf hielt ihn jedoch nicht davon ab, ein überaus fleißiger Schriftsteller zu werden, zudem noch Drehbücher zu schreiben, zu malen und eine Professur für Bayerische Literaturgeschichte zu bekleiden. Er selbst sah sich als Nachfahre Kafkas. Neben vielen Auszeichnungen erhielt er 1999 den Jean-Paul-Preis für sein Gesamtwerk.

München steht bis hin zum nachgelassenen Roman "Martha" im Zentrum seines Werks. Im Vorfeld der Olympischen Spiele verfasste er "Herbert Rosendorfers aechtes Olympia-Buch". Einige Jahre später imaginierte er in "Großes Solo für Anton" ein München, das von einer Neutronenbombe getroffen wurde. In dieser formidablen Anti-Robinsonade stromert als letzter Überlebender ein Finanzbeamter durch die Stadt und beobachtet, wie sich die Natur den Stadtraum zurückerobert.

Auch in den "Briefen" sind Münchner Örtlichkeiten leicht auszumachen. Von Schloss Nymphenburg über das "Hong-tel von den vier Jahreszeiten" bis zum Olympiagelände, in dem "irgendwelche Massen-Rituale" abgehalten werden, "möglicherweise", vermutet Kao-tai, "öffentliche Hinrichtungen". Der Humor des unerbittlichen Menschenbeobachters Rosendorfer reichte von feinziselierter Satire bis zu galligem Zynismus. Aufs Schönste wird das auch in Kao-tais Schilderung des Oktoberfests deutlich: "Wan-tswa-xu-fa (...) Vierzehn Tage halten die Großnasen das durch. Dabei vergessen sie oder vertreiben mit Gewalt und zwanghaft ihren Missmut." Im Herbst könnte es wieder einmal so weit sein.

Herbert Rosendorfer, Briefe in die chinesische Vergangenheit. Roman. dtv, 276 Seiten. 10,90 Euro oder antiquarisch.

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